Abschiebungsverbot für jungen, alleinstehenden afghanischen Mann, der lange im Iran gelebt hat und der Hazara-Minderheit angehört. In Afghanistan würde er ohne familiären Rückhalt und auf Grund fehlender Durchsetzungsfähigkeit sein Existenzminimum nicht erwirtschaften können.
(Leitsätze der Redaktion)
[…]
b) Es ist auch nicht festzustellen, dass dem Kläger in Afghanistan eine Verfolgung aufgrund seiner politischen Überzeugung bzw. aufgrund einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung droht (§§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG).
Anhaltspunkte hierfür ergeben sich insbesondere nicht aus seiner Mitgliedschaft bei der Partei Hezbeh-Refaie-Miliye Afghanistan.
Zwar glaubt die Einzelrichterin dem Kläger, dass es einen Angriff der Taliban auf seinen Kontrollposten gegeben hat und dass der Kläger in diesem Zusammenhang verletzt worden ist. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass es sich um einen Angriff gehandelt hat, der insbesondere der Person des Klägers gegolten hat. Ein besonderes Interesse der Taliban an der Person des Klägers ergibt sich nicht aus seinem Vorbringen und ist auch sonst nicht erkennbar.
So hat der Kläger sowohl bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt, als auch in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass alleiniger Zweck der Organisation der Schutz und die Verteidigung des Dorfes gewesen sei. In der mündlichen Verhandlung hat er auf ausdrückliche Nachfrage erklärt, dass die Partei keine politischen Ziele verfolgt hat und nichts mit der Polizei oder der Regierung zu tun hatte, sondern nur aus zivilen Mitgliedern - den Leuten aus den umliegenden Dörfern - bestanden habe. Sie hätten sich nur verteidigt, aber nicht angegriffen. Partei, Kommandantur, Kommandeur und Ältestenrat seien das gleiche. Die auf dem Mitgliedsausweis des Klägers auffälliger Weise als einziges in lateinischen Schriftzeichen vermerkte Internetadresse www.refahemelli.com führt zu keinen weiteren Erkenntnissen. Die Homepage (übersetzt mit Google-Übersetzer) besteht im Wesentlichen aus einer Startseite, die keine näheren Angaben zu Hezbeh-Refaie-Miliye Afghanistan enthält, sondern vielmehr über die Afghan Awakening Party berichtet. In Ansehung all dessen ist die Einzelrichterin überzeugt, dass es sich bei der Partei des Klägers um eine zivile Gruppe gehandelt hat, deren einzige Aufgabe darin bestand, das Dorf und seine Bewohner zu schützen, die aber in keiner Weise politisch in Erscheinung getreten ist. Weshalb die Taliban an der Person des Klägers allein deshalb ein besonderes Interesse gehabt haben sollten, weil er der Gruppenleiter in einem Stützpunkt gewesen ist und die "Kämpfer" mit Lebensmitteln versorgt hat, erschließt sich vor diesem Hintergrund nicht. In der Folge ist nicht anzunehmen, dass dem Kläger aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Partei durch einen der in § 3c AsylG benannten Akteure eine politische Überzeugung zugeschrieben worden ist oder künftig zugeschrieben wird, die eine begründete Furcht vor Verfolgung begründen kann.
Es ist nach alldem nicht ersichtlich, dass der Kläger sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen eines in seiner Person liegenden asylrechtlich relevanten Merkmals i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG außerhalb Afghanistans aufhält. [...]
Der Kläger hat jedoch Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm. das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt. [...]
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen in der Person des Klägers vor.
So ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht. Das Auswärtige Amt teilt in seinem Lagebericht zu Afghanistan vom 19.10.2016 mit, dass der Staat, einer der ärmsten der Welt, in extremem Maß von Geberunterstützung abhängig sei. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gelte dies naturgemäß verstärkt. Die zeitweise Einnahme von Distrikten in verschiedenen Provinzen Afghanistans und nicht zuletzt die Besetzung der Provinzhauptstadt Kundus durch die Taliban im September 2015 habe die Zahl der Binnenflüchtlinge weiter erhöht. Die Arbeitslosenquote sei im Oktober 2015 auf 40 Prozent gestiegen. Die aus Konflikt und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen hätten zur Folge, dass ca. 1 Mio. oder 29,5 % aller Kinder als akut unterernährt gelten. Problematisch bleibe die Lage der Menschen insbesondere in den ländlichen Gebieten des zentralen Hochlands. Staatliche soziale Sicherungssysteme existierten praktisch nicht. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in Städten sei nach wie vor schwierig. Die medizinische Versorgung sei - trotz erkennbarer Verbesserungen - immer noch unzureichend. Rund 36 % der Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze und die Analphabetenrate liege bei 70 %. Auch das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere besondere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar.
Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update: Die aktuelle Sicherheitslage, Update vom 30.09.2016) sieht mangels sozialer Sicherungssysteme für eine sichere und wirtschaftliche Existenz eines Rückkehrers ein gutes Familiennetz und zuverlässige Stammes- und Dorfstrukturen als wichtigste Voraussetzung an. Die vorhandene medizinische Versorgung wird als völlig unzureichend eingestuft. Weite Teile der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. In Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, würde etwa ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. 34 Prozent der Bevölkerung litten an Lebensmittelunsicherheit und 43 Prozent hätten keinen gesicherten Zugang zu Trinkwasser. Aufgrund der andauernden Gewalt, der politischen Instabilität sowie der extremen Armut und den zahlreichen Naturkatastrophen befinde sich das Land in einer humanitären Notlage. Die Arbeitslosenrate betrage bis zu 50 Prozent und Unterbeschäftigung sei weit verbreitet.
Die durch die Landflucht rasant angewachsene städtische Bevölkerung, die vielen durch den Krieg zerstörten Wohngegenden sowie internationale Organisationen, welche horrende Mieten bezahlen können, hätten die Mietpreise in Kabul stark in die Höhe getrieben. Vor allem in Kabul gehöre die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen. Das Ziel der afghanischen Regierung, 65 Prozent der Haushalte in den Städten und 25 Prozent in den ländlichen Gegenden mit Elektrizität zu versorgen, sei nicht erreicht worden. Über 40 Prozent der Rückkehrenden könnten sich in ihren Heimatorten nicht integrieren und zahlreiche Flüchtlinge seien nach ihrer Rückkehr auf Unterstützung angewiesen gewesen. Für Rückkehrende sei es oft unmöglich, ihr Land zurückzufordern und zudem schwierig, ohne soziales und wirtschaftliches Netzwerk eine Arbeitsstelle zu finden.
Nach UN OCHA (Human Needs Overview 2017, November 2016, abrufbar auf reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/afg_2017_hno_english.pdf) deuten jüngste Schätzungen darauf hin, dass über 9 Millionen Menschen begrenzt oder keinen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung haben. Die Rate der Säuglings- und Müttersterblichkeit bleibe unter den höchsten der Welt. Starke Ernährungsunsicherheit sei auf dem Vormarsch, wobei bereits 1,6 Millionen Menschen ernsthaft unter Lebensmittelunsicherheit litten. Ernährungsumfragen im Jahr 2016 hätten eine globale akute Mangelernährung (GAM) gezeigt bei einer Prävalenz von 10,9 bis 20,7 %. Eine schwere akute Mangelernährung (SAM) habe in 20 von 34 Provinzen Notschwellen überschritten. 1,8 Millionen Menschen würden eine Behandlung für akute Unterernährung benötigen, von denen 1,3 Millionen Kinder unter fünf Jahren seien. Diese Krise sei durch die Rückkehr von rund 600.000 registrierten Flüchtlingen und undokumentierten Afghanen aus Pakistan im Jahr 2016 vergrößert worden.
Nach UNHCR (Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern, Dezember 2016) hat sich die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan im Verlauf des Jahres 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert. Der enorme Anstieg an Rückkehrern habe zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten in den wichtigsten Städten und Distrikten in Afghanistan geführt. Die negativen Auswirkungen auf die lokalen Märkte, Unterbringungsmöglichkeiten, den Zugang zu Land sowie zu Möglichkeiten der Existenzsicherung seien beträchtlich.
Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.07.2017 (Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017) führt zu keiner anderen Betrachtung.
Zwar ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass jeder Person bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod droht oder sie alsbald schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte. Auch die Lageberichte gehen letztlich davon aus, dass trotz großer Schwierigkeiten jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass jedenfalls für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Staatsangehörige ohne Ausbildung, die nicht auf die Hilfe von Verwandten oder Bekannten zurückgreifen können, grundsätzlich die Möglichkeit, als Tagelöhner mit Aushilfsjobs ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Diese Ansicht wird von der überwiegenden Zahl der Obergerichte geteilt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.09.2015 - 13a ZB 15.30063 - juris; Urteil vom 12.02.2015 - 13a B 14.30309 - juris; OVG NRW, Urteil vom 03.03.2016 - 13 A 1828/09.A - juris Rn. 73 m.w.N.; OVG Lüneburg, Urteil vom 20.07.2015 - 9 LB 320/14 - juris; SächsOVG, Beschluss vom 21.10.2015 -1 A 144/15.A - juris).
Im konkreten Fall des Klägers liegen jedoch besondere Umstände vor, die es ihm deutlich erschweren, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums finanzieren und sich allmählich in die afghanische Gesellschaft integrieren zu können, so dass bei ihm eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, alsbald nach seiner Rückkehr einer Existenzbedrohung ausgesetzt zu sein.
Vorliegend ist unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers beim Bundesamt, wonach er keinen Kontakt zu seiner Familie hat, sowie seines Vorbringens in der mündlichen Verhandlung, wonach seine Familie sich zwischenzeitlich im Iran befinde, zumindest unklar, wo die Familie des Klägers sich derzeit aufhält und ob der Kläger auf ihre Unterstützung zurückgreifen könnte. Ob es dem Kläger gelingen könnte, sein Existenzminimum zu sichern, wird deshalb voraussichtlich in besonderem Maße von seiner Eigeninitiative, Durchsetzungsfähigkeit und der Fähigkeit, in kleinem Kreise ein soziales Netzwerk zu knüpfen, abhängen. Aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger, der bei seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung gewonnen werden konnte, ist die Einzelrichterin nicht der Überzeugung, dass der Kläger über derartige Fähigkeiten verfügt. Er wirkte niedergeschlagen und machte einen introvertierten, teilweise unbedarften Eindruck, ohne dass die Einzelrichterin den Eindruck haben musste, dass dieses Verhalten nur vorgespielt ist. Erschwerend ist für den Kläger zu berücksichtigen, dass er über keinerlei Schul- oder Berufsausbildung verfügt und überdies zu der in Afghanistan weithin diskriminierten Volksgruppe der Hazara gehört. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass es dem Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht oder nur erheblich erschwert gelingen wird, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erfolgreich in Konkurrenz zu anderen Bewerbern zu treten und sich somit sein Auskommen zu sichern. [...]