Verlust des EU-Freizügigkeitsrechts bei schwerwiegenden Straftaten:
Der Verlust des EU-Freizügigkeitsrechts bei schwerwiegenden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist bei EU-Ausländern mit Daueraufenthaltsrecht nur dann rechtmäßig, wenn festzustellen ist, dass der Betroffene das strafbewährte Verhalten beibehält oder wiederaufnimmt (Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - C-348/09 -). Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Prognosefeststellung, die das Gericht grundsätzlich in eigener Sachkunde zu treffen hat, ist die letzte mündliche Verhandlung. Im Einzelfall kann die Einholung eines forensisch-psychologischen Sachverständigengutachtens erforderlich sein.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Das persönliche Verhalten des Klägers begründet nunmehr aber keine tatsächliche und gegenwärtige Gefährdung mehr.
Die von § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU geforderte gegenwärtige Gefährdung als Rechtfertigung einer Verlustfeststellung ist vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nur dann anzunehmen, wenn festgestellt werden kann, dass eine Neigung des Betroffenen besteht, das strafbewährte Verhalten in Zukunft beizubehalten bzw. wiederaufzunehmen (EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - C-348/09 - juris Rdn. 33, 34). Für die Beurteilung einer solchen Wiederholungsgefahr ist vom Rang des bedrohten Rechtsgutes auszugehen. Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadenseintritts sind umso geringer, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 - a.a.O. Rdn. 16; OVG Nordrhein- Westfalen, Urteil vom 14. März 2013 - 18 A 2263/08 - a.a.O. Rdn. 37).
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes und auch des besonderen Gewichts der begangenen Straftaten zulasten des Klägers lässt das Ergebnis der Beweisaufnahme die Annahme einer Wiederholungsgefahr nicht mehr zu.
Zwar ist es dem Senat nicht verwehrt, diese Prognose unter Auswertung der Aktenlage auch in eigener Sachkunde selbst zu treffen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. September 2015 - 1 B 39/15 - juris). Angesichts der hier vorliegenden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Minderjährigen und Misshandlung von Schutzbefohlenen und der zwischenzeitlichen Therapiebemühungen des Klägers hat der Senat jedoch besondere Umstände erkannt, die die Hinzuziehung eines gerichtlichen Sachverständigen rechtfertigen, weil es auch um eine Auswertung von vielschichtigen tatsächlichen und in der Psyche des Klägers liegenden Umständen geht, insbesondere um Therapiemaßnahmen und -ergebnisse, die letztendlich erst eine Verhaltensprognose aus forensisch-psychologischer Sichtweise ermöglichen.
Diese Beweisaufnahme lässt eine Überzeugungsgewissheit des Senats für die Annahme einer Wiederholungsgefahr nicht mehr zu. Das forensisch-psychologische Gutachten vom 21. August 2017 des gerichtlichen Sachverständigen, Dipl.-Psych. ..., gelangt in nachvollziehbarer und überzeugender Weise zu diesem Ergebnis auf der Grundlage einer persönlichen Untersuchung des Klägers und unter Auswertung der Ergebnisse von Therapiemaßnahmen. Nachvollziehbar hat der Sachverständige einen positiven Verlauf der durchgeführten Therapiemaßnahmen geschildert. Zwar konnte nach dem Haftverlauf und ersten Therapiemaßnahmen noch kein sicherer Erfolg erzielt werden, wie der Sachverständige noch in seinen Gutachten vom März 2009 bei der Prüfung einer vorzeitigen Haftentlassung zu Lasten des Klägers festgestellt hatte. Der Sachverständige hat aber den Senat davon überzeugt, dass die im Zeitraum danach vorgenommene Strategien zur Vermeidung einer Rückfallgefahr bei dem Kläger zu einem Erfolg geführt haben, wie beispielsweise die Teilnahme an einer deliktpräventiven Gruppenbehandlung für Sexualstraftäter von Juli 2012 bis Dezember 2013 zeigt. Den erarbeiteten Rückfallplan schätzt der Sachverständige als tauglich und die eigene Motivation des Klägers als echt ein, Deliktwiederholungen zu vermeiden. [...]