VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 - asyl.net: M26185
https://www.asyl.net/rsdb/M26185
Leitsatz:

1. Ausgehend von dem in Afghanistan vorherrschenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikt lässt sich für die afghanische Provinz Daikundi im Januar 2018 kein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

2. Die Maßstäbe aus Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU sind bei der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots entsprechend anzuwenden, soweit es um Tatsachenfeststellungen geht, die sich unmittelbar auf das Herkunftsland des Betroffenen beziehen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, extreme Gefahrenlage, nationales Abschiebungshindernis, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Daikundi, subsidiärer Schutz, Existenzminimum, Hazara, Kabul, Glaubhaftigkeit, Rückkehrerfälle,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, wonach er aus Daikundi stammen und diese Region nach dem Tod seiner Mutter Anfang der 2010er Jahre verlassen haben und nach Teheran übergesiedelt sein will, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt auch unter Berücksichtigung der Volkszugehörigkeit des Klägers eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.

In der Provinz Daikundi gab es zwischen 2015 und 2017 immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Taliban oder anderen regierungsfeindlichen Kräften im Sinne der Definition von UNAMA einerseits und regierungsfreundlichen Gruppen und Truppen andererseits (EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 98 f.).

Zwischen dem 1. September 2016 und dem 31. Mai 2017 ließen sich 153 sicherheitsrelevante Zwischenfälle in der Provinz feststellen. Davon gingen 57 auf bewaffnete Auseinandersetzungen oder Luftangriffe, 12 auf Explosionen und 12 auf gegen Einzelpersonen gerichtete Gewalt zurück (EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 100).

Nachdem UNAMA für das Jahr 2015 in den beiden Provinzen Bamyan und Daikundi zusammen 58 Opfer in der Zivilbevölkerung festgestellt hatte (davon 30 Todesopfer) und 2016 für die beiden Provinzen einen Anstieg auf 115 Opfer (davon 25 Todesopfer) auswies (UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017 S. 5) geht UNAMA für die Zeit vom 01.01.2017 bis zum 30.06.2017 von 21 Opfern (davon 7 Todesopfer) aus, wobei die meisten dieser Zivilpersonen Opfer explosiver Kampfmittelrückstände waren (UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017 S. 73).

Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 460.000 Personen (EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017 S. 98) gesehen erkennbar nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Die Opferzahlen sind auch dann, wenn man davon ausginge, dass die Annahmen von UNAMA von unzutreffend geringen Opferzahlen ausgingen, weit davon entfernt, in einem Bereich zu sein, in dem das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr des ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG entweder für jedermann oder aber auch für bestimmte, besonders gefährdete Gruppen auch nur in Erwägungen gezogen werden könnte.

II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.

aa) Der Senat konnte sich keine Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) davon bilden, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr auf sich allein gestellt wäre und keine Verwandten oder andere Anlaufstellen in Kabul hätte.

(1) Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.

Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann (grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -,
NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.)

So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95EU - der hier bezogen auf das nationale Abschiebungsverbot keine unmittelbare Anwendung finden kann - unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühest-möglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59).

Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden (dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59).

Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nach-vollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden (vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.)).

Diese Maßstäbe sind auch bei der Prüfung des geltend gemachten Anspruchs auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots anzuwenden, soweit es um Tatsachenfeststellungen geht, die sich unmittelbar auf das Herkunftsland des Betroffenen beziehen. Denn insoweit sind die Interessenlage und der mögliche Beweisnotstand sehr ähnlich zu der Situation, in der sich ein Kläger befindet, der internationalen Schutz begehrt. [...]