VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.02.2018 - A 11 S 335/18 - asyl.net: M26187
https://www.asyl.net/rsdb/M26187
Leitsatz:

[Ablehnung des Berufungszulassungsantrags des BAMF zur Frage, ob das Konzept der Gruppenverfolgung auf Personen anwendbar ist, die sich in Syrien dem Militärdienst entzogen haben:]

1. Die asylrechtliche Figur der Gruppenverfolgung betrifft den Rückschluss auf eine Gefahr der Verfolgung für einen Asylbewerber aus der Verfolgung von Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals, das er mit ihnen teilt.

2. Die zwingende Anwendung dieses Konzepts auf die Frage, ob bei einer festgestellten, beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungshandlung auf das Vorliegen eines relevanten Verfolgungsgrundes geschlossen werden kann, liegt nicht auf der Hand.

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - asyl.net: M25201)

Schlagwörter: Gruppenverfolgung, Syrien, wehrpflichtiges Alter, Wehrpflicht, Militärdienst, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Berufungszulassungsantrag, Flüchtlingseigenschaft, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4,
Auszüge:

[...]

1. Die Entscheidungserheblichkeit der von der Beklagten aufgeworfenen und formulierten Frage, "ob die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Gruppenverfolgung auch bei der Frage der Rückkehrgefährdung von sich im Ausland befindlichen männlichen syrischen Staatsangehörigen im rekrutierungsfähigen Alter, die ohne Genehmigung der Militärbehörden Syrien verlassen haben, Anwendung finden oder ob bei Teilen dieser Gruppe eine Verfolgungsgefahr zu verneinen ist" wird mit dem Zulassungsvorbringen nicht dargelegt.

a) Das Verwaltungsgericht hat im Anschluss an das Urteil des Senats vom 2. Mai 2017 (A 11 S 562/17 -, juris) entschieden, dass syrische Männer zwischen dem 18. und 42. Lebensjahr der Militärdienstpflicht unterlägen und jederzeit mit ihrer Einberufung rechnen müssten, Ihnen drohe im Falle der Rückkehr nach der zitierten Rechtsprechung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingrechtlich relevante Verfolgung, weil das syrische Regime sie als Gegner einstufe.

b) Das Zulassungsvorbringen stellt hiergegen die Voraussetzungen für die Annahme einer sog. Gruppenverfolgung dar, stellt fest, dass Personen im rekrutierungsfähigen Alter eine Personengruppe darstellten, die von einer Gruppenverfolgung erfasst sein könnte und hält dem Verwaltungsgericht vor, es hätte weiter prüfen müssen, ob diese Abgrenzung ausreiche oder ob bei Teilen dieser Gruppe eine Verfolgungsgefahr generell zu verneinen sei.

c) Damit wird die Entscheidungserheblichkeit der Frage nicht dargelegt.

Dazu wäre es zunächst erforderlich gewesen, das vom Verwaltungsgericht in Bezug genommene Senatsurteil und seine Argumentation, dem sich das Verwaltungsgericht angeschlossen hat, in den Blick zu nehmen. Außerdem wäre es erforderlich gewesen, davon ausgehend zu erläutern, weshalb hier die dargestellten Maßstäbe der Gruppenverfolgung relevant sein könnten, nachdem weder das Verwaltungsgericht noch der Senat in der in Bezug genommenen Entscheidung den Begriff oder die aufgeführten Maßstäbe erwähnt oder angewendet haben.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass das Konzept der Gruppenverfolgung darauf gerichtet ist, im Rahmen des Individualrechts auf Zuerkennung internationalen Schutzes von der Verfolgung anderer auf die Gefahr der eigenen Verfolgung zu schließen. So hat das Bundesverfassungsgericht zum Asylgrundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. im Beschluss vom 23. Januar 1991 (2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216) entschieden:

"Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist. In solcher Lage kann die Gefahr eigener politischer Verfolgung auch aus fremdem Schicksal abgeleitet werden."

Hingegen ist der Senat in seinem zitierten Urteil vom 2. Mai 2017 ausgehend von Erkenntnismitteln zu der Feststellung gelangt, dass Wehrdienstverweigerung in Syrien bestraft wird und die Untersuchungsmaßnahmen und eine sich möglicherweise anschließende, auch längere Haft mit Folterungen einhergehen und die menschenrechtswidrige Behandlung ausgehend von dem "Freund-Feind-Schema" als alles durchziehendes Handlungsmuster des syrischen Regimes an eine relevanten Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG anknüpft. Während die Figur der Gruppenverfolgung das Risiko einer gleichen Verfolgung betrifft, geht es hier – ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen – allein um die Verknüpfung der Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund. Mit diesen Fragen setzt sich das Zulassungsvorbringen indes nicht auseinander.

Im Dunklen bleibt schließlich, welche Teile der Gruppe der Männer im wehrdienstfähigen Alter ggf. keine relevante Verfolgungsgefahr zu gewärtigen haben sollen. [...]