VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 09.01.2018 - 6a K 4863/16.A - asyl.net: M26203
https://www.asyl.net/rsdb/M26203
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für bisexuellen Mann aus dem Iran:

Im Iran ist die Homosexualität im Gegensatz zur Transsexualität nicht legalisiert. Die Behörden im Iran verfolgen Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, homosexuell, bisexuell, Strafbarkeit, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingseigenschaft, Gefährdungspotenzial, Strafverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, staatliche Verfolgung, Todesstrafe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3 c Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger zu 1. hat gemäß § 3 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der Bisexuellen, außerhalb seines Herkunftslandes befindet. [...]

Homosexuellen droht im Iran nach den Informationen aus den vorliegenden Erkenntnisquellen flüchtlingsrelevante Verfolgung. Im Iran ist die Homosexualität im Gegensatz zur Transsexualität nicht legalisiert. Das iranische Strafgesetzbuch sieht für sexuelle Handlungen zwischen Männern als Regelstrafe die Todesstrafe vor, wofür allerdings die Beweisanforderungen sehr hoch sind (vier männliche Zeugen, Ermittlungsverbot in Fällen, in denen zu wenige Zeugenaussagen vorliegen, hohe Strafen für Falschbeschuldigungen). Bei Minderjährigen und in weniger schwerwiegenden Fällen sind Peitschenhiebe vorgesehen (auch hierfür sind zwei männliche Zeugen erforderlich) (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 8. Dezember 2016, Stand: Oktober 2016, S. 11).

Die Behörden im Iran verfolgen Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität. Einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen gleichen Geschlechts sind verboten. Homosexuelle sind Schikanen und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. In einigen Fällen wurden von Sicherheitskräften Razzien in Häusern durchgeführt und auch Websites überwacht. Nicht nur der einvernehmliche Geschlechtsverkehr zwischen Männern ist kriminalisiert, sondern auch andere Handlungen, darunter Berühren und intimes Küssen, die mit Peitschenhieben 'bestraft werden können. Darüber hinaus haben Regierungsvertreter, Mitglieder der Bassidj-Milizen und Vertreter der Strafverfolgung und der Geheimdienste die Kriminalisierung von gleichgeschlechtlichem Verhalten als Vorwand benutzt, um eine Überwachung und Regulierung privater einvernehmlicher Beziehungen zwischen Menschen zu etablieren und grundlegende Rechte von Menschen zu verletzen, die beschuldigt wurden, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu unterhalten: Es kam zu Massenverhaftungen von Männern, die man verdächtigte, homosexuell zu sein (vgl. Amnesty International, amnesty Report 2015 Iran vom 19. Februar 2015, www.amnesty.de/Jahresbericht/2015/iran; Amnesty International, queeramnesty, Offener Brief von internationalen NGOs an den Präsidenten der Islamischen Republik Iran vom 29.12.2013, www.queeramnesty.de/laender/artikel /kategorie/iran/view/offener-brief-an-den-praesidenten-der-islamischenrepubflk-iran.html).

Danach ist davon auszugehen, dass offen gelebte Homosexualität - insbesondere von Männern - im Iran ein erhebliches Gefährdungspotenzial für staatliche Verfolgung in sich birgt und sich dieses Potenzial im Einzelfall zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Bedrohung verdichten kann (vgl. zur Verfolgung Homosexueller auch VG Würzburg, Urteil vom 23. Dezember 2015— W 6 K 15.30648 -, Juris, Rn. 40. […]