OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.01.2018 - 3 S 5.18; 3 M 4.18 - asyl.net: M26206
https://www.asyl.net/rsdb/M26206
Leitsatz:

Vorläufige Duldung im Eilrechtsschutzverfahren für umgangsberechtigten Vater eines deutschen Kleinkindes:

1. Dem Vater eines anderthalbjährigen Kindes, der sein Umgangsrecht ausübt, ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes eine vorläufige Duldung (jedoch nicht bis zum Abschluss des Haupsacheverfahrens) zu erteilen, da auch eine vorübergehende Trennung für ein Kleinkind unzumutbar sein kann.

2. Dies gilt insbesondere, wenn unklar ist, ob überhaupt ein Visum aus dem Ausland erteilt werden würde, weil nicht alle Erteilungsvoraussetzungen erfüllt sind oder die deutsche Auslandsvertretung voraussichtlich erst nach einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein Visum erteilen würde, nachdem die Ausländerbehörde eine schützenswerte familiäre Beziehung verneint hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, Eltern-Kind-Verhältnis, Visumsverfahren, Umgangsrecht, familiäre Lebensgemeinschaft, Sorgerecht, vorläufiger Rechtsschutz, deutsches Kind,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Besteht zwischen einem deutschen Kind und einem ausländischen Elternteil eine verfassungsrechtlich schützenswerte familiäre Beziehung, kann ein rechtliches Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG auch bei einer nur vorübergehenden Trennung vorliegen, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (so z.B. bei einem 2 1/2 Jahre alten Kind BVerfG, Beschluss vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 - juris Rn. 10). Insoweit sind die Gerichte verpflichtet, die Folgen einer vorübergehenden Trennung zu würdigen und müssen vor allem auch eine Vorstellung davon entwickeln, welcher Trennungszeitraum zumutbar ist (BVerfG, Beschluss vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 14: Beschluss vom 9. Januar 2009 - 2 BvR 1064/08 - juris Rn. 17; Beschluss vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 33).

Gemessen daran hätte das Verwaltungsgericht - was die Beschwerde zutreffend einwendet - berücksichtigen müssen, dass sich die Trennungszeit aller Voraussicht nach nicht auf einen überschaubaren Zeitraum begrenzen lässt, den die zuständige Auslandsvertretung durchschnittlich für die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug benötigt. Da der Antragsgegner mit Bescheid vom 27. September 2017 das Vorliegen einer schutzwürdigen familiären Gemeinschaft verneint hat, liegt es hier mehr als nahe, dass er im Visumverfahren seine Zustimmung nach § 31 Abs. 1 AufenthV mit der Folge versagen wird, dass die zuständige Auslandsvertretung kein Visum erteilt. Unter diesen Umständen ist die Dauer eines sich an das Visumverfahren anschließenden, vom Ausland aus zu führenden (erstinstanzlichen) verwaltungsgerichtlichen Verfahrens einzubeziehen, was zu einer Trennungszeit von mindestens einem Jahr führen wird. [...]

Im Übrigen wäre - ohne dass es darauf noch entscheidungserheblich ankommt - bei der Frage nach einer zumutbaren Trennung vorrangig zu prüfen gewesen, ob überhaupt eine Rechtsgrundlage besteht, aufgrund derer der Antragsteller nach seiner Ausreise die Erteilung eines Visums beanspruchen könnte. Dies dürfte hier zu verneinen sein. Solange der Antragsteller für seinen Sohn kein Sorgerecht innehat, setzt die im Ermessen der zuständigen Behörde stehende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - bei nicht gesichertem Lebensunterhalt - gemäß § 26 Abs. 1 Satz 4 AufenthG·voraus, dass die familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet gelebt wird. Das ist nach der Ausreise des nachzugswilligen Elternteils nicht mehr der Fall (vgl. dazu auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. April 2015 - OVG 11 M 39.14 - juris Rn. 3). Für die Erteilung eines Visums nach§ 6 Abs, 3, § 28 Abs. 4 in Verbindung mit § 36 Abs. 2 AufenthG ist hier nichts ersichtlich. Unter diesen Umständen wäre die Trennung des Antragstellers von seinem Sohn sogar dauerhaft.

Vor diesem Hintergrund Ist der Vorhalt des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe sich in der Vergangenheit nicht hinreichend um einen Termin bei der Botschaft bemüht, nicht entscheidungserheblich. Die Beschwerde weist allerdings zu Recht darauf hin, dass ein solches Verhalten nicht dazu führen kann, dass eine - auch aus der Sicht des Kindes zu beurteilende - unzumutbare Trennungsdauer hingenommen werden muss. Verfassungsrechtlich kommt es grundsätzlich allein auf die tatsächliche Dauer der Trennung an und nicht darauf, in wessen Sphäre die Ursache für diese Dauer fällt (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 - juris Rn. 16).

Im Hinblick darauf, dass bei einer Ausreise des Antragstellers die Dauer der Trennung von seinem erst 1 1/2 Jahre alten Sohn unzumutbar wäre, stellt sich die von dem Verwaltungsgericht nicht beantwortete Frage, ob eine zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn bestehende schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft glaubhaft gemacht ist. Das ist - auch wenn eine weitere Aufklärung im Hauptsacheverfahren geboten erscheint - zu bejahen. Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung, die sich nicht vorrangig an der Quantität der Kontakte orientieren darf (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 231/00 - juris Rn. 29). Dies gilt namentlich bei Umgangskontakten, weil sich hier die Eltern-Kind-Beziehung typischerweise deutlich von dem Verhältnis des Kindes zur täglichen Betreuungsperson unterscheidet. Dass der Umgangsberechtigte nur ausschnittsweise am Leben des Kindes Anteil nehmen kann und keine alltäglichen Erziehungsentscheidungen trifft, steht der Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft nicht entgegen (BVerfG, Beschluss vom 9. Januar 2009 - 2 BvR 1064/08 - juris Rn. 17 Rn. 20; Beschluss vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 39). Es ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen, wobei Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen sind. Hierbei ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (BVerfG, Beschluss vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 14). [...]

Soweit der Antragsteller die Aussetzung der Abschiebung bis zum Abschluss des Klageverfahrens begehrt, hat die Beschwerde keinen Erfolg, weil die weitere Entwicklung der derzeit glaubhaft gemachten familiären Beziehungen nicht absehbar ist. Dem Gericht kommt im einstweiligen Anordnungsverfahren bei der Sicherung des Hauptsacheanspruchs - anders als im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO - eine Gestaltungsbefugnis zu (vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123 Rn. 133). [...]