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BGH

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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 20.12.2017 - XII ZB 333/17 - asyl.net: M26207
https://www.asyl.net/rsdb/M26207
Leitsatz:

a) Kind im Sinne des § 99 FamFG kann auch eine Person sein, die das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, wenn diese nach dem insoweit anwendbaren Recht noch minderjährig ist.

b) Ist der Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit sowohl für die internationale Zuständigkeit als auch für die verfahrensgegenständliche Frage, ob die Vormundschaft beendet ist, maßgeblich, so handelt es sich insoweit um eine doppelrelevante Tatsache, für die im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung die Minderjährigkeit als gegeben zu unterstellen ist.

c) Auch wenn das deutsche Gericht seine internationale Zuständigkeit bei Anordnung einer Vormundschaft auf Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO stützt, ist die hypothetische Zuständigkeit nach Art. 5 und 6 KSÜ ausreichend dafür, dass gemäß Art. 15 Abs. 1 KSÜ deutsches Recht zur Anwendung kommt (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 16. März 2011 XII ZB 407/10 FamRZ 2011, 796).

d) Die Regelung in Art. 12 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst auch die Frage der Volljährigkeit eines Flüchtlings, so dass sie die Staatsangehörigkeitsanknüpfung des Art. 7 Abs. 1 EGBGB verdrängt.

e) Der Anwendungsbereich des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens ist nur für Schutzmaßnahmen eröffnet, die die Hilfsbedürftigkeit wegen einer psychischen oder körperlichen Behinderung oder Krankheit auffangen sollen, nicht aber bei der Vormundschaft wegen Minderjährigkeit.

f) Zu den Anforderungen an die Feststellung des Eintritts der Volljährigkeit nach ausländischem Recht (hier der Republik Guinea).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: minderjährig, Volljährigkeit, Genfer Flüchtlingskonvention, unbegleitete Minderjährige, Vormundschaft, Haager Minderjährigenschutzabkommen, doppelrelevante Tatsache, internationale Zuständigkeit, ausländisches Recht, anwendbares Recht,
Normen: EGBGB Art. 7 Abs. 1 S. 1, EGBGB Art. 24 Abs. 1 S. 1, KSÜ Art. 5, KSÜ Art. 6, KSÜ Art. 3 lit. c, KSÜ Art. 2, GFK Art. 12,
Auszüge:

[...]

Die Frage, ob die Minderjährigkeit des Betroffenen mit Vollendung des 18. Lebensjahres geendet hat, ist aber nach internationalem Privatrecht selbständig anzuknüpfen und lässt sich auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht bejahen.

(1) Der Eintritt der Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres folgt danach für den Betroffenen nicht aus § 2 BGB iVm - ggf. über § 2 Abs. 1 AsylG - Art. 12 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK; BGBl. 1953 II S. 559, 560), das für das Personalstatut eines Flüchtlings in das Recht seines Wohnsitzes und in Ermangelung eines solchen seines Aufenthaltslandes verweist.

Anders als das Oberlandesgericht meint, erfasst die Regelung in Art. 12 Abs. 1 GFK allerdings die Frage der Volljährigkeit des Flüchtlings. Richtig ist zwar, dass der Begriff des Personalstatuts in der Konvention selbst nicht definiert ist. Die Geschäftsfähigkeit und insbesondere die Frage der Volljährigkeit gehören jedoch sowohl aus deutscher Sicht als auch bei konventionsautonomer Auslegung zum Kernbereich des Personalstatuts (vgl. zum Ganzen v. Hein FamRZ 2015, 1822, 1823 mwN), so dass Art. 12 Abs. 1 GFK die Staatsangehörigkeitsanknüpfung des Art. 7 Abs. 1 EGBGB verdrängt (OLG Hamm Beschluss vom 3. Mai 2017 - 10 UF 6/17 - juris Rn. 12 ff.; v. Hein FamRZ 2015, 1822, 1823; Böhmer/Siehr/Verschraegen Das gesamte Familienrecht [Stand: August 2017] Art. 7 EGBGB Rn. 18 und Art. 5 EGBGB Rn. 24; Erman/Hohloch BGB 15. Aufl. Art. 7 EGBGB Rn. 2; MünchKommBGB/Lipp 6. Aufl. Art. 7 EGBGB Rn. 34; Palandt/Thorn BGB 77. Aufl. Anh. Art. 5 EGBGB Rn. 23; Staudinger/ Hausmann BGB [2013] Art. 7 EGBGB Rn. 20; aA OLG Karlsruhe FamRZ 2015, 1820, 1821; jurisPK-BGB/Ludwig [Stand: 1. März 2017] Art. 7 EGBGB Rn. 7). Dass dies zur Folge hat, dass der Tatrichter in Fällen wie dem vorliegenden die Flüchtlingseigenschaft eigenständig prüfen muss (Senatsurteil BGHZ 169, 240 = FamRZ 2007, 109), kann nicht ausschlaggebend dafür sein, die mit Art. 12 Abs. 1 GFK bezweckte rechtliche Entkoppelung des Flüchtlings von dem Nationalstaat, der ihm zur Flucht Anlass gegeben hat, nicht umzusetzen (vgl. auch Staudinger/Bausback BGB [2013] Anhang IV zu Art. 5 EGBGB Rn. 68). Mit der Genfer Flüchtlingskonvention sollten Flüchtlinge möglichst weitgehend integriert und den Einwohnern des Wohnsitzstaates praktisch gleichgestellt werden. Dies bedingt aber auch, die Frage ihrer Volljährigkeit nach dem Recht des Wohnsitz- bzw. Aufenthaltslandes zu beurteilen (vgl. Staudinger/Bausback BGB [2013] Anhang IV zu Art. 5 EGBGB Rn. 47).

Eine nicht staatenlose Person wie der Betroffene des vorliegenden Verfahrens ist Flüchtling nach Art. 1 Abschnitt A Abs. 2 GFK iVm dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293, 1294), wenn sie sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will (vgl. auch § 3 Abs. 1 AsylG). Feststellungen dazu, ob dies auf den Betroffenen zutrifft, hat das Oberlandesgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - bislang nicht getroffen. [...]

(b) Gemessen hieran ist das Oberlandesgericht ohne ausreichende Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangt, dass die Volljährigkeit (auch) nach dem Recht der Republik Guinea mit der Vollendung des 18. Lebensjahres eintrete.

Welches Volljährigkeitsalter nach dem Recht der Republik Guinea gilt, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet. Während einige Oberlandesgerichte von der Volljährigkeit erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres ausgehen (OLG Karlsruhe Beschluss vom 7. September 2017 - 18 WF 62/17 - juris Rn. 28 ff.; OLG Brandenburg StAZ 2017, 111; OLG Bremen Beschluss vom 23. Februar 2016 - 4 UF 186/15 - juris Rn. 9 ff.), stimmen andere mit der angefochtenen Entscheidung überein (OLG Oldenburg Beschluss vom 5. September 2017 - 13 WF 76/17 - juris Rn. 14; OLG Hamm [10. Senat für Familiensachen] Beschluss vom 3. Mai 2017 - 10 UF 6/17 - juris Rn. 17 ff.). Dabei ist der Ausgangspunkt jeweils identisch, wonach gemäß dem - bislang nicht ausdrücklich aufgehobenen - Art. 443 des Code Civil der Republik Guinea die Volljährigkeit auf das vollendete 21. Lebensjahr festgesetzt wird (vgl. auch Henrich/Arnold in Bergmann/Ferid Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht [Stand: 1. März 2006] "Guinea" S. 14, 33). Unterschiedlich wird hingegen eingeschätzt, welche rechtlichen Konsequenzen sich aus dem im Jahr 2008 eingeführten Code de l´Enfant der Republik Guinea und insbesondere aus dessen Art. 168 ergeben, der nach den tatrichterlichen Feststellungen besagt, dass ein Kind unter 18 Jahren nur mit Zustimmung seiner Eltern bzw. des Inhabers der elterlichen Gewalt Verträge abschließen kann. Teilweise wird der Code de l´Enfant allein als Gesetzeswerk gesehen, das die Rechte von Kindern in Guinea näher regele, nur Anwendung auf Personen unter 18 Jahren finde und keine Regelungen über den Eintritt der Volljährigkeit enthalte (vgl. OLG Bremen Beschluss vom 23. Februar 2016 - 4 UF 186/15 - juris Rn. 11). Demgegenüber wird zur Begründung einer mit diesem Gesetzeswerk verbundenen - nach Art. 6 Code Civil möglichen - stillschweigenden Änderung des Volljährigkeitsalters darauf verwiesen, dass das Gesetz unter anderem in Art. 271 ff. Bestimmungen zur Entlassung aus der elterlichen Sorge enthalte, die diejenigen im Code Civil zu dieser Materie ersetzten und zum Teil von ihnen abwichen (vgl. OLG Oldenburg Beschluss vom 5. September 2017 - 13 WF 76/17 - juris Rn. 13).

Das Oberlandesgericht hat sich auf die Mitteilungen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Guinea vom 3. Mai 2016 und der Botschaft der Republik Guinea vom 30. September 2016 gestützt. Allerdings hatte Letztere noch unter dem 19. September 2016 erklärt, die Volljährigkeit werde "laut Zivilgesetzbuch mit 21 Jahren erreicht". Angesichts dieser aus sich heraus unklaren Gesetzeslage, die zu divergierenden Beurteilungen in der obergerichtlichen Rechtsprechung geführt hat, und den unterschiedlichen Auskünften der Behörden Guineas durfte sich das Oberlandesgericht nicht mit der ersichtlich auf einer vorläufigen Einschätzung beruhenden Auskunft des in Aussicht genommenen Gutachters begnügen, ihm scheine die Gesetzeslage klar zu sein. Vielmehr sind bei dieser Sachlage an die Ermittlungspflicht höhere Anforderungen zu stellen, die es gebieten, ein aussagekräftiges Sachverständigengutachten einzuholen. [...]