Subsidiärer Schutz für eine Afghanin mit vier Kindern: Zwar knüpft die Bedrohung durch die Taliban wegen ihrer Arbeit als Lehrerin nicht an einen asylrechtlich relevanten Verfolgungsgrund an, begründet aber die Gefahr eines ernsthaften Schadens. Da die Mutter nach Verlust des Ehemanns alleinerziehend ist, steht ihr keine zumutbare interne Fluchtalternative zur Verfügung.
(Leitsätze der Redaktion)
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Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, denn sie haben ihre Heimat bedroht verlassen, und es liegen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass ihnen in ihrem Herkunftsland kein ernsthafter Schaden mehr drohen würde, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011.
a. Das Gericht hat sich in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen können, dass die Kläger ihre Heimat konkret und unmittelbar bedroht verlassen haben. Der Sache nach stellt sich das Geschehen so dar, dass die Klägerin zu 1. als Lehrerin an einer Grundschule im Landkreis A. in der Provinz F. zunächst gehindert war, den Unterricht fortzusetzen, nachdem die Taliban die Grundschule dort niedergebrannt hatten. Sie hat dann Nachhilfeunterricht in ihrer Nachbarschaft gegeben und damit erneut den Unwillen der Talibananhänger erregt. Ihr Ehemann ist deshalb von den Taliban bedroht worden mit dem Ziel, dass die Klägerin zu 1. ihren Unterricht aufgeben solle. Drei bis vier Monate später im Frühherbst 2015 kam es dann zu einer tätlichen Auseinandersetzung der Talibananhänger mit ihrem Mann vor ihrem Wohnhaus im Dorf C. im Landkreis A. Dabei ist ihr Ehemann mit einem Gewehr geschlagen worden. Darauf haben die Kläger ihre Heimat verlassen. [...]
Diese drohende Gefahr ließ zwar, wie schon ausgeführt, keinen asylerheblichen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3b AsylG erkennen. Indessen drohte den Klägern eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und ihrer Unversehrtheit durch die Taliban als nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG. Angesichts der in weiten Teilen Afghanistans fehlenden staatlichen Präsenz und Ohnmacht der Sicherheitsorgane, die Bevölkerung vor den Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban zu schützen, ist daher die von diesem Akteur ausgehende Gewalt als eine relevante Bedrohung im Sinne des internationalen Schutzkonzepts nach Richtlinie 2011/95/EU zu qualifizieren. So wurden in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 (S. 25) landesweit extralegale Hinrichtungen, Folter und Misshandlungen von Zivilisten durch sog. regierungsfeindliche Kräfte festgestellt; ein Großteil der regierungsfeindlichen Kräfte seien den Taliban zuzuordnen. Im UNAMA Jahresreport 2015 wurden ebenfalls 76 Opfer infolge von Todesstrafen und Auspeitschungen durch regierungsfeindliche Kräfte dokumentiert. Die Fähigkeit des afghanischen Staates, die Zivilbevölkerung vor Menschenrechtsverletzungen Dritter zu schützen, ist nach den UNHCR-Richtlinien 2016 insgesamt schwach oder gar nicht ausgeprägt, je nachdem um welche afghanische Region es sich handelt (a.a.O. S. 28). Gerade in ländlichen Gebieten fehlt es oftmals an der Durchsetzung eines justizförmig bewehrten Schutzes und wird, wenn überhaupt, oftmals nur gegen Schmiergeld gewährt.
Infolgedessen ist die durch die Taliban ausgehende Bedrohung der willkürlichen Gewalt im Rahmen des innerstaatlich bewaffneten Konflikts in Afghanistan im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zuzurechnen, die im Falle der Kläger zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens geführt hatte.
c. Den Klägern stand auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e AsylG offen. [...]
Noch entscheidender ist aber der Um-stand, dass den Klägern eine anderweitige Neuansiedlung angesichts der prekären Rückkehrsituation vernünftigerweise nicht angesonnen werden kann. Mit vier Kindern ist die vorverfolgte Familie, die wegen der Bedrohungslage nicht an ihren Heimatort in F. zurückkehren kann, auf eine Niederlassungsmöglichkeit in den großen Städten Afghanistans angewiesen, in denen die Regierungsgewalt im großen Ganzen noch durchgesetzt werden kann. Dort haben die Kläger allerdings kein ausreichendes familiäres Umfeld, das sie bei ihrer Neuansiedlung stützen könnte. Mit den beiden Kleinkindern wird nicht daran zu denken sein, dass die Klägerin zu 1. als alleinerziehende Mutter in ausreichendem Maße selbst arbeiten gehen kann, um das erforderliche Haushaltseinkommen zu erzielen. [...]
Der Umstand, dass sie bereits von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht gewesen waren, ist nach der rechtlich bindenden Vorgabe des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die andauernde Furcht der Kläger vor Verfolgung begründet ist. In diesem Fall kann die Annahme einer erneuten Bedrohungslage nur dann ausgeschlossen werden, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass die Kläger erneut von einem solchen Schaden bedroht werden würden. Solche stichhaltigen Gründe sind nicht erkennbar, denn der fortdauernde Einflussbereich der Taliban in der Provinz F. und in den benachbarten Provinzen einschließlich der Großstadt Kabul wird bis zur Gegenwart dokumentiert. F. zählt zu den relativ volatilen Provinzen in Nordafghanistan; Mitglieder aufständischer Gruppen, wie den Taliban oder dem IMU sind in dieser Provinz aktiv. Nordafghanistan war einst ein relativ friedlicher Teil des Landes, aber die Taliban eroberten im Herbst 2016 kurzfristig das administrative Zentrum des Distrikts Ghormach. Die Taliban und andere lokale regierungsfeindliche Gruppen haben im Jahr 2017 territoriale Gewinne gemacht, indem immer wieder schlecht bemannte Polizei-Checkpoints in abgelegenen Distrikten eingenommen wurden (Republik Österreich, BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Fassung vom 25. 9. 2017, S. 60 m.w.N.). [...]