VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 06.03.2018 - 3 A 9719/17 - asyl.net: M26242
https://www.asyl.net/rsdb/M26242
Leitsatz:

[Keine erneute Unzulässigkeitsentscheidung bei Fortführung des Verfahrens nach § 37 AsylG:]

1. Wenn die Entscheidungen des Bundesamtes über die Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG des Antrags und die Abschiebungsandrohung gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG unwirksam werden, weil das Verwaltungsgericht dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entsprochen hat, ist eine darauffolgende Entscheidung, die wiederum eine Unzulässigkeit des Antrags nach § 29 Abs. 1 Nrn. 1 u. 2 AsylG konstatiert, rechtswidrig.

2. Der Tatbestand des § 37 Abs. 1 AsylG ist nicht teleologisch zu reduzieren und steht auch im Einklang mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 33 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Suspensiveffekt, Dublinverfahren, Italien, Ausreisefrist, Abschiebungsandrohung, subjektives Recht, Fortführung des Verfahrens,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 34, AsylG § 35, AsylG § 36, AsylG § 37, AsylG § 38
Auszüge:

[...]

22 Das Bundesamt durfte den Asylantrag des Klägers nicht erneut als unzulässig ablehnen. Dieses Vorgehen verstößt gegen § 37 Abs. 1 AsylG.

23 a) Gemäß § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG werden die Entscheidungen des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Antrags nach § 29 Abs. 1 Nrn. 2 u. 4 AsylG und die Abschiebungsandrohung unwirksam, wenn das Verwaltungsgericht dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO - wie hier geschehen - entspricht. Das Bundesamt hat dann nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG das Asylverfahren fortzusetzen.

24 Das bedeutet, dass das Bundesamt in einer solchen Situation über den Asylantrag in der Sache zu entscheiden hat; der Asylantrag ist als beachtlich zu behandeln (Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, AsylG, § 37 Rn. 3, beck-online; Erbs/Kohlhaas/Hadamitzky/Senge, AsylG § 37, Rn. 1-3, beck-online).

25 Wäre es dem Bundesamt demgegenüber möglich, den Antrag erneut nach § 29 Abs. 1 Nrn. 1 u. 2 AsylG als unzulässig abzulehnen, liefe die Norm in ihrem Regelungsgehalt nicht nur praktisch leer, sondern würde in ihr Gegenteil verkehrt, da dann das Bundesamt die Möglichkeit erhielte, entgegen einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts einen Bescheid erneut auf derselben Grundlage zu erlassen. Darüber hinaus bestünde die Gefahr eines zirkulären Vorgangs, weil nach einer erneuten Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO ggf. wiederum die Wirkung des § 37 Abs. 1 AsylG eintreten würde und dann das Bundesamt erneut den Bescheid in der ursprünglichen Form erlassen könnte, usw. Dass die Beklagte diesen zirkulären Vorgang umgangen hat, indem sie eine Ausreisefrist von 30 Tagen gesetzt und in der Rechtsmittelbelehrung eine Klagefrist von zwei Wochen eingeräumt hat, wodurch die Klage aufschiebende Wirkung hat, ist für diese Betrachtung unerheblich, da dieses Vorgehen nicht der gesetzlichen Vorgabe für Fälle der vorliegenden Art entspricht (vgl.: §§ 29 Abs. 1 Nr. 2, 36 Abs. 1, 3 Satz 1 AsylG).

26 b) Der in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung teilweise geäußerten Auffassung, wonach § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG im Wege der teleologischen Reduktion auf jene Fälle zu beschränken sei, in denen nicht nur die Abschiebungsandrohung, sondern auch die Unzulässigkeitsentscheidung selbst durchgreifenden rechtlichen Zweifeln begegnet (so VG Lüneburg, Urteil vom 13. Dezember 2016 - 8 A 175/16 - juris), vermag die Kammer nicht zu folgen (so im Ergebnis auch: VG Trier, Beschluss vom 16. März 2017 – 5 L 1846/17.TR –, Rn. 15, juris; VG Köln, Urteil vom 17. August 2017 – 20 K 2037/17.A –, Rn. 22, juris). Angesichts des klaren Wortlauts der Vorschrift und des Fehlens konkreter Anhaltspunkte für einen davon abweichenden bestimmbaren Willen des Gesetzgebers scheidet eine teleologische Reduktion aus.

27 Auf die Gründe, aus denen die stattgebende Entscheidung im Eilverfahren ergangen ist, kommt es nach dem eindeutigen Wortlaut des § 37 Abs. 1 AsylG nicht an. Diese Vorschrift normiert vielmehr, dass die Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Antrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und die Abschiebungsandrohung unwirksam werden, wenn das Verwaltungsgericht dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht. Hierbei differenziert sie nicht danach, aus welchen Gründen dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entsprochen wird. Auch aus den Materialien zum Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. 2016, Teil I, Nr. 39; Gesetzentwurf BT-Drucksache 18/8615, 31.05.2016) lässt sich kein abweichender Wille des Gesetzgebers entnehmen. Vielmehr legen die Materialien nahe, dass es sich bei der Neuregelung des § 37 AsylG lediglich um eine redaktionelle Anpassung an die Neuregelung des § 29 AsylG handelte, indem schlicht der Begriff "unbeachtlich" durch "unzulässig" ersetzt wurde, vermutlich unter versehentlicher Außerachtlassung der inhaltlichen Neugestaltung des § 29 AsylG.

28 Auch die innere Systematik des § 37 AsylG steht einer teleologischen Reduktion des Absatzes 1 entgegen.

29 § 37 Abs. 3 AsylG sieht vor, dass die Regelungen des § 37 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG keine Anwendung finden, wenn auf Grund der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Abschiebung in einen der in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staaten vollziehbar wird. Diese Regelung knüpft an § 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG an, wonach eine Abschiebungsandrohung lediglich teilrechtswidrig ist, wenn dem Ausländer die Abschiebung in einen Staat angedroht wurde, für den ein Abschiebungsverbot besteht. Das bedeutet, dass § 37 Abs. 3 AsylG nur dann Anwendung findet, wenn in einer Abschiebungsandrohung mehrere Zielstaaten benannt sind, das Gericht dem Eilrechtsschutzantrag jedoch nur partiell stattgibt, weil es im Hinblick auf zumindest einen der bezeichneten Zielstaaten keine ernstlichen Zweifel an der Zulässigkeit der Abschiebung in diesen Staat hat. Der Gesetzgeber wollte demnach die gesetzliche Unwirksamkeitsfolge des § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG für jene Fälle ausschließen, in denen das Gericht nicht hinsichtlich aller in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Zielstaaten ein Abschiebungsverbot annimmt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG grundsätzlich auch dann Anwendung finden muss, wenn dem Eilrechtsschutzantrag allein aufgrund des Vorliegens von Abschiebungsverboten stattgegeben wird, denn andernfalls besäße die Rückausnahme des § 37 Abs. 3 AsylG keinen sachlich sinnvollen Anwendungsbereich (vgl.: VG Trier, Beschluss vom 16. März 2017 – 5 L 1846/17.TR –, Rn. 15, juris).

30 Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 37 Abs. 1 AsylG je nachdem, ob der Erfolg des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO auf tatsächlichen Zweifeln an einer Schutzgewährung im Drittstaat beruhte oder auf systemischen Mängeln des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen im Drittstaat oder "nur" auf Verstößen gegen die Anforderungen der Art. 20ff. Richtlinie 2011/95/EU, verbietet sich zudem auch deshalb, weil die rechtlichen Folgen von systemischen Mängeln im Drittstaat und/oder Verstößen gegen die Anforderungen der Art. 20ff. Richtlinie 2011/95/EU für die Zulässigkeit eines Asylantrags in der Bundesrepublik sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europarechtlicher Ebene nicht abschließend geklärt sind (so auch: VG Köln, a.a.O., Rn. 24, mit Verweis auf: Hess. VGH, Urteil vom 04.11.2016 - 3 A 1292/16.A - und den Vorlagebeschluss des BVerwG an den EuGH vom 27.06.2017 - 1 C 26.16 -).

31 c) Warum § 37 Abs. 1 AsylG vor dem Hintergrund von Art. 33 VRL "aus unionsrechtlichen Gründen unanwendbar" sein soll, erschließt sich der Kammer nicht. Diese Norm bestimmt in Absatz 1 lediglich, dass die Mitgliedstaaten nicht prüfen müssen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird. In Absatz 2 lit. a) wird aufgeführt, dass Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten können, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. Art. 33 VRL gibt den Mitgliedstaaten demnach lediglich die Möglichkeit ("nicht prüfen müssen", "betrachten können"), einen Antrag als unzulässig zu betrachten. Diese Norm ist jedoch nicht so auszulegen, dass die Mitgliedstaaten in eine solche Richtung verpflichtet werden sollen. [...]