VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 19.06.2018 - 3 B 3967/18 - asyl.net: M26317
https://www.asyl.net/rsdb/M26317
Leitsatz:

Systemische Mängel in Aufnahmebedingungen auch für nicht besonders Schutzbedürftige in Italien:

Der Umstand, dass rücküberstellte Personen in Italien regelmäßig mit Obdachlosigkeit rechnen müssen, reicht für die Annahme einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK aus. Deshalb ist auch für alleinstehende erwachsene Personen eine individuelle Zusicherung Voraussetzung für eine Überstellung.

(Leitsatz der Redaktion; im Anschluss an VG Hannover, Urteil vom 12. Oktober 2017 - 3 A 4622/17 - , juris; entgegen OVG Niedersachsen, Urteil vom 04.04.2018 - 10 LB 96/17 - Dublin-Sammlung: M26252, OVG Niedersachsen, Urteil vom 09.04.2018, asyl.net: M26250, OVG Niedersachsen, Beschluss vom 06.08.2018 - 10 LA 320/18 - Dublin-Sammlung: M26668, VG Hannover, Beschluss vom 14.01.2019 - 5 B 5153/18 - Dublin-Sammlung: M27029) 

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, systemische Mängel,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1 S. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 S. 2, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Maßstäben ist nach summarischer Prüfung von systemischen Mängeln der Aufnahmebedingungen in Italien auszugehen.

Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover hat in einer Leitentscheidung vom 12. Oktober 2017 (VG Hannover, Urteil vom 12. Oktober 2017 - 3 A 4622/17 juris) ausgeführt:

"Im Hinblick auf die Situation für eine Familie mit kleinen Kindern, die aufgrund einer Zuständigkeit Italiens nach der Dublin II-VO in das Land zurückgeschickt werden sollte, hat die Große Kammer des EGMR in ihrem Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12, Tarakhel/Schweiz NVwZ 2015, 127, Leitsätze 4 bis 6, in diesem Zusammenhang ausgeführt:

"Bei einer Überstellung nach den Dublin-Regeln kann die Vermutung, dass der Aufnahmestaat Art. 3 EMRK beachtet, wirksam widerlegt werden, wenn es nachweislich ernsthafte Gründe gibt anzunehmen, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer gegen diese Vorschrift verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In Italien besteht ein flagrantes Missverhältnis zwischen der Zahl der Asylanträge, die sich nach den Angaben der italienischen Regierung am 15.6.2013 auf 14184 belief, und den 9630 Plätzen in Einrichtungen, die nach dem Vortrag der italienischen Regierung die Beschwerdeführer aufnehmen würden. Danach kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder nur in überbelegten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen. Deswegen würde Art. 3 EMRK verletzt, wenn die Schweizer Behörden die Beschwerdeführer nach Italien überstellen ohne vorherige individuelle Zusicherungen der italienischen Behörden, dass sie in einer dem Alter der Kinder entsprechenden Weise aufgenommen werden und die Familieneinheit gewahrt wird."

Diese Vorgaben gelten nach Auffassung der erkennenden Kammer über den vom EGMR in dem zitierten Urteil konkret entschiedenen Einzelfall hinaus auch für alleinstehende erwachsene Personen. [...]"

An dieser Rechtsprechung hält der Einzelrichter nach der gebotenen summarischen Prüfung - auch in Ansehung der neuen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (OVG Lüneburg, Urteil vom 04. April 2018 - 10 LB 96/17 juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Mai 2018 - 10 LB 202/18 -, juris) - fest. Diese geht von keinen wesentlich anderen Umständen und Zahlen aus als die vorzitierte Rechtsprechung der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover (VG Hannover, a.a.O.). Der Einzelrichter vermag nicht der Argumentation zu folgen, dass auch auf nichtstaatliche Unterkunftsmöglichkeiten abzustellen ist. Denn es geht hier um die Frage systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen in Italien, bei der nach dem Dafürhalten des Einzelrichters ausschließlich auf die staatlich garantierten Einrichtungen abzustellen ist. Alle privat und kirchlich vorgehaltenen Möglichkeiten stehen zudem nicht unter dem Zeichen einer Garantie und können deshalb jederzeit wegfallen. Wie die vorzitierte Rechtsprechung der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover aus Sicht des Einzelrichters richtig darstellt, verbietet es sich auch, die vom Oberverwaltungsgericht Niedersachsen aufgeführten Bemühungen anzuführen und daraus einen Schluss für die aktuelle Situation herzuleiten. Die gerichtliche Entscheidung hat die Situation im Entscheidungszeitpunkt zugrunde zu legen (§ 77 Abs. 1 AsylG). Das Verwaltungsgericht Hannover hat in der vorbezeichneten Entscheidung darauf hingewiesen, dass die in Italien ergriffenen Maßnahmen noch nicht den gewünschten Erfolg herbeigeführt haben. Schließlich müsste man in Bezug auf die vom Oberverwaltungsgericht Niedersachsen angeführten Bemühungen nunmehr jedenfalls berücksichtigen, dass die neue italienische Regierung eine veränderte, restriktivere Asylpolitik betreibt (vgl. hierzu u.a.: FAZ-online vom 12. Juni 2018, "Häfen geschlossen - Italiens harte Linie in der Flüchtlingskrise": www.faz.net/aktuell/politik /ausland/fluechtlingskrise-italien-laesst-haefen-geschlossen-15635282.html; taz-online vom 14. Juni 2018, "Italien verweigert Flüchtlingsaufnahme- Rettungsschiff fehlt Landeerlaubnis": www.taz.de/5513272/; Spiegel online vom 14. Juni 2018, "Italiens Rechtspopulist gegen Flüchtlinge - Trumpino": www.spiegel.de/politik/ausland/italien-wie-matteo-salvini-gegen-fluechtlinge-propagiert-a-1212799.html). An den vormaligen Bemühungen wird Italien mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht festhalten.

Italien hat im Fall der Antragstellerin eine Unterbringungsmöglichkeit nicht im Sinne der Tarakhel-Rechtsprechung individuell garantiert. Vielmehr erfolgte auf das Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin keine Reaktion seitens der italienischen Behörden. [...]