VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 28.05.2018 - 4 A 418/17 MD - asyl.net: M26322
https://www.asyl.net/rsdb/M26322
Leitsatz:

[Flüchtlingsanerkennung für einen jungen afghanischen Mann:]

1. Die Klage ist nicht wegen Fristversäumnis unzulässig, da die Zustellung erst mit dem tatsächlichen Zugang bewirkt wurde. Eine analoge Anwendung des § 41 Abs. 2 S. 1 VwVfG, welcher auf Grund der bloßen Absendung des Schreibens von einer Bekanntgabe ausgeht, zu § 10 Abs. 7 AsylG kommt nicht in Betracht, da letzterer besondere formelle Anforderungen an die Bekanntgabe der Hinweise auf die Zustellungsvorschriften vorsieht.

2. Die Flüchtlingseigenschaft ist wegen drohender Zwangsrekrutierung durch die Taliban zuzuerkennen.

3. Eine interne Fluchtalternative steht dem Kläger nicht zur Verfügung: Die Wohnsitznahme bei Verwandten ist ausgeschlossen, da verwandtschaftliche Beziehungen den Taliban auf Grund ihres Informationsnetzwerkes nicht verborgen bleiben. Die Wohnsitznahme in anderen Landesteilen ohne soziale Netzwerke ist dem Kläger auf Grund seines jungen Alters sowie mangelnder Eigenständigkeit und Durchsetzungsvermögen nicht zumutbar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Zwangsrekrutierung, Zustellung, Vormund, Vormundschaft, unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Belehrung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Familienangehörige, Existenzminimum, politische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 74 Abs. 1 S. 1, VwZG § 8, AsylG § 10 Abs. 7, AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]
Die Klage ist zulässig. Die Klage wurde innerhalb der Klagefrist von zwei Wochen ab Zustellung des angefochtenen Bescheides (§ 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG) erhoben. Der Bescheid wurde dem Kläger nicht wirksam zugestellt. Die Zustellung gilt erst in dem Zeitpunkt als bewirkt, in dem der Bescheid dem Kläger tatsächlich zugegangen ist (§ 8 VwZG).

Der Kläger muss den Zustellungsversuch an seine frühere Anschrift nicht gemäß § 10 Abs. 2 AsylG gegen sich gelten lassen, weil er nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 10 Abs. 7 AsylG entsprechend über die Zustellungsvorschriften belehrt worden ist. Nach § 10 Abs. 7 AsylG ist der Ausländer bei der Antragstellung schriftlich und gegen Empfangsbestätigung auf die Zustellungsvorschriften hinzuweisen. Das ist nicht geschehen. Der Empfang der an den … e. V. - als seinerzeit gesetzlichen Vertreter des Klägers - gerichteten Hinweise in der Anlage zum Schreiben vom 26.10.2015 wurde nicht bestätigt. Die entsprechenden Formularfelder sind leer geblieben. Die gesetzliche Regelung verlangt ausdrücklich eine Empfangsbestätigung; die bloße Kenntnisnahme reicht nicht aus. Zudem kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Schreiben vom 26.10.2015 überhaupt dem gesetzlichen Vertreter des Klägers zugegangen ist. Einen Zugangsnachweis gibt es nicht. Es gibt auch keine Umstände, aus denen auf den Zugang des Schreibens geschlossen werden kann. Der ... e. V. hat nicht auf das Anschreiben vom 09.12.2015 reagiert und insbesondere - trotz der Aufforderung in dem Schreiben - weder den Vormundschaftsbeschluss vorgelegt noch die Anschrift des Klägers angezeigt. Im Hinblick darauf, dass § 10 Abs. 7 AsylG besondere formelle Anforderungen an die Bekanntgabe der Hinweise auf die Zustellungsvorschriften vorsieht, kommt auch nicht in Betracht, analog § 41 Abs. 2 Satz 1 VwVfG aufgrund der bloßen Absendung des Mitteilungsschreibens von einer Bekanntgabe auszugehen. Im Übrigen findet sich im Verwaltungsvorgang des Bundesamts kein Vermerk über die Aufgabe dieses Schreibens zur Post, während es sonst offenbar üblich ist, solche Vorgänge zu dokumentieren (siehe den Vermerk die Übersendung der "Dokumappe an AS Halberstadt", S. 16 des Verwaltungsvorgangs). Aus dem weiteren Verwaltungsvorgang ist nicht ersichtlich, dass der Kläger im weiteren Verlauf des Verfahrens - etwa bei der Anhörung - über die Zustellungsvorschriften informiert worden ist. Der Kläger hat auch bestritten, dass es eine entsprechende Belehrung gab.

Eine wirksame Zustellung des Bescheides vom 29.03.2017 ist demnach erst im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs bewirkt worden (§ 8 VwZG). [...]

Die Klage ist im Wesentlichen begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. [...]

Der Kläger hat vorgetragen, dass er aus seinem Heimatdorf geflüchtet ist, weil die Taliban ihn zwangsrekrutieren wollten. Er hat berichtet, dass sein Vater gewarnt worden sei, weil die Taliban die Absicht gehabt hätten, ihn, den Kläger, wegen seiner Englischkenntnisse zur Mitarbeit bei der Taliban zu zwingen. Deshalb sei er von seinem Vater sofort nach Kabul geschickt worden. In dieser Zeit habe er von seinen Eltern erfahren, dass sich Angehörige der Taliban in der Moschee des Heimatdorfs nach ihm erkundigt hätten. In der Folgezeit habe auch seine Familie wegen des Drucks durch die Taliban ihr Dorf verlassen und sei mehrfach umgezogen. [...]

Der Kläger hat wegen der von ihm beschriebenen Vorfälle auch mit einer Verfolgung durch die Taliban zu rechnen. Die Annahme in dem angefochtenen Bescheid, der Kläger möge zwar eine Bedrohungslage empfunden haben, es lägen jedoch keine Anhaltspunkte vor, welche die Befürchtung objektiv begründen könnten, teilt das Gericht nicht. Es spricht viel dafür, dass ein Zugriff der Taliban unmittelbar bevorstand. Schon der Umstand, dass der Vater des Klägers, der mit den regionalen Gepflogenheiten vertraut war, die Warnung so ernst genommen hat, dass er seinen Sohn noch am selben Tag nach Kabul geschickt hat, spricht dafür, dass es sich bei der Warnung nicht um eine belanglose Vermutung handeln konnte. Die Ernsthaftigkeit der Rekrutierungsabsicht und der Suche nach dem Kläger wird dadurch bestätigt, dass sich Angehörige der Taliban in der Zeit, als der Kläger das Dorf verlassen hatte, nach dessen Verbleib erkundigt haben. Auch der Umstand, dass die Eltern des Klägers in der Folgezeit mehrfach ihren Wohnsitz gewechselt haben, spricht dafür, dass sie sich konkreten und unmittelbar bevorstehenden Gefahren durch die Taliban ausgesetzt gesehen haben, auch wenn sie ihrem Sohn die Gründe (offenbar um ihn nicht zu beunruhigen) nicht mitgeteilt haben. [...]

Dem Kläger stand und steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative (§ 3e AsylG) zur Verfügung, um bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung der Taliban auszuweichen. Der Wohnort der Eltern, zuletzt in Mazar-e Sharif, scheidet als Fluchtalternative aus, weil Mazar-e Sharif den Taliban als möglicher Aufenthaltsort des Klägers bekannt sein wird - dort ist der Kläger zur Schule gegangen. Entsprechendes gilt für eine Wohnsitznahme bei Verwandten oder im Haus der Verwandten seiner Mutter, wo sich der Kläger unmittelbar vor seiner Flucht aufgehalten hat. Verwandtschaftliche Beziehungen werden den Taliban, die aufgrund der breit gestaffelten Anhängerschaft über ein Netzwerk zur Informationsbeschaffung verfügen, nicht verborgen bleiben.

Eine Wohnsitznahme in einer der größeren Städte abseits verwandtschaftlicher Nähe scheidet als Fluchtalternative ebenfalls aus. [...]

Bei dem Kläger ist hier zu berücksichtigen, dass er mit einem Lebensalter von 19 Jahren noch sehr jung ist und über wenig Lebenserfahrung verfügt. Er wäre bei einer Rückkehr in Regionen abseits von Wohnorten der eigenen Verwandtschaft auf sich allein gestellt und hätte keine Unterstützung bei der Suche nach Wohnung und Arbeit. Er ist nie einer Arbeitstätigkeit nachgegangen. Körperlich schwere Arbeit ist der Kläger nicht gewohnt. Der Kläger hat bislang keine wichtige Lebensentscheidung selbst treffen müssen. Auch die Entscheidung zur Flucht - zunächst nach Kabul, dann nach Europa - hat sein Vater für ihn getroffen. Der Kläger hat auch auf das Gericht einen eher zurückhaltenden Eindruck gemacht und man hat ihm seine mangelnde Lebenserfahrung angemerkt. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass dem Kläger die Eigenständigkeit und das Durchsetzungsvermögen fehlen werden, sich durch Gelegenheitsarbeiten die finanzielle Grundlage für er ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu verschaffen. Angesichts des Verdrängungswettbewerbs um Tagelöhnertätigkeiten ist damit zu rechnen, dass sich der Kläger auf Arbeitsmarkt in den größeren Städten gegen ältere, kräftigere und erfahrenere Männer nicht durchsetzen kann oder an Kriminelle gerät, die seine Situation ausnutzen. [...]