1. Ein Ausländer, der zum Ablauf seiner befristeten Duldung jeweils eine neue Duldung nach dem Aufenthaltsgesetz unter wiederholter Angabe falscher Personalien beantragt, setzt sich mit jedem neuen Antrag jeweils der Strafbarkeit des Erschleichens einer Duldung gemäß § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG aus.
2. Die Verpflichtung zu wahrheitsgemäßen und vollständigen Angaben gemäß § 49 Abs. 2 AufenthG gilt bei jedem neuen Antrag auf Erteilung einer Duldung uneingeschränkt. Die Gefahr, sich bei wahrheitsgemäßen Angaben aufgrund vorhergehender falscher Angaben der Strafverfolgung auszusetzen, berührt den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare) nicht.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
21 c) Schließlich widerspricht die Bestrafung im vorliegenden Falle gerade nicht dem verfassungsrechtlichen Schutz vor erzwungener Selbstbelastung.
22 Der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, durch eigene Aussage die Voraussetzung für eine strafgerichtliche Verurteilung zu liefern, ist vom Bundesverfassungsgericht als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG anerkannt worden. Durch rechtlich vorgeschriebene Auskunftspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage gegebenenfalls ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden. Wegen dieser Folgen ist die erzwingbare Auskunftspflicht als Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Art. 2 Abs. 1 GG zu beurteilen. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt zugleich die Würde des Menschen, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird (zusammenfassend: BVerfG NJW 2005, 352-353, juris Rn. 8).
23 aa) Daraus wird vereinzelt in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur geschlossen, dass in Fällen wie dem vorliegenden bereits die Strafbarkeit ausgeschlossen sei. Dies wird entweder durch eine verfassungskonform einschränkende Auslegung der Strafnormen selbst (LG Berlin, StV 2015, 704-705, juris Rn. 16; Winkelmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 95 Rn. 63) oder durch eine Begrenzung der den Straftatbeständen zugrundeliegenden Auskunfts- und Mitwirkungspflichten (Mosbacher in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: April 2018, § 95 Rn. 140) begründet.
24 bb) Andere gehen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon aus, dass die unter der gesetzlichen Auskunftspflicht unter Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit getätigten Angaben (jedenfalls) mit einem Beweisverwertungsverbot belegt sind (Fahlbusch in: Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 95 AufenthG Rn. 102, 225; Hohoff in: BeckOK AuslR, 17. Ed. 01.11.2017, AufenthG § 95 Rn. 46; Mosbacher, a.a.O., Rn. 139).
25 cc) Indessen sieht der Senat den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit im vorliegenden Fall nicht berührt. Der festgestellte Sachverhalt unterfällt bereits nicht den Voraussetzungen, die die höchstrichterliche Rechtsprechung und das Bundesverfassungsgericht einem Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit zugrunde legen.
26 Die Revision verkennt bereits, dass durch den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit allenfalls ein Schweigen bzw. Passivität des Auskunftspflichtigen geschützt wird. Hingegen berechtigt der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nicht zur Begehung neuen Unrechts (vgl. zur steuerrechtlichen Rechtsprechung: BGH wistra 2012, 482, 483 f., juris; NStZ 2005, 517-519, juris Rn. 13-15; NJW 2002, 1134-1135, juris Rn. 6; Jäger in: Klein, Abgabenordnung, 13. Auflage 2016, § 393 Rn. 29-30). Die dazu ergangene Rechtsprechung aus dem Steuerrecht ist auf die vorliegende Konstellation aus dem Ausländerrecht übertragbar. Wie ein Ausländer nach dem Aufenthaltsgesetz ist auch ein Steuerpflichtiger nach dem Gesetz der jeweiligen Besteuerungsart verpflichtet, jeweils wiederkehrend wahrheitsgemäße Angaben zu seinen steuerlich relevanten Vorgängen zu machen. Beispielsweise bei der Abgabe einer Erklärung zur Einkommenssteuer oder bei der Umsatzsteuerjahreserklärung kann der Steuerpflichtige Gefahr laufen, durch wahrheitsgemäße Angaben unrichtige Einkommenssteuererklärungen der Vorjahre oder eine unzutreffende Umsatzsteuervoranmeldung preisgeben zu müssen. Gleichwohl ist es ihm verwehrt, zur Verdeckung der vorangegangenen - nach § 370 AO strafbewehrten - Steuerverkürzung Einkünfte weiterhin zu verschweigen oder die unrichtigen Angaben der Voranmeldung bei der Umsatzsteuerjahreserklärung zu wiederholen.
27 Im vorliegenden Fall hat der Angeklagte nach den zutreffenden Feststellungen des Tatgerichts jedoch jeweils die Angabe der unwahren Personalien bei jeder nachfolgenden Beantragung einer erneuten Duldung schriftlich wiederholt. Er hat mithin die unzutreffenden Angaben jeweils aktiv vorgenommen. [...]