VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 25.04.2018 - 6 A 10814/17 - asyl.net: M26393
https://www.asyl.net/rsdb/M26393
Leitsatz:

Zuerkennung subsidiären Schutzes für ein in Deutschland geborenes Kind yezidischer Eltern aus der irakischen Provinz Ninawa.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, extreme Gefahrenlage, Islamischer Staat, subsidiärer Schutz, interner Schutz, interne Fluchtalternative, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, erhebliche individuelle Gefahr,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

46 Nach diesen Maßgaben ist hier davon auszugehen, dass für den Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak eine individuelle Bedrohung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegt. In Ninawa stehen sich mit Einheiten der Volksmobilisierung al-Hashd al-Shaab, irakischen Söldnern, dem türkischen Militär, Peschmerga und Guerilla der PKK verschiedene rivalisierende und bewaffnete Gruppen mit gegenläufigen Interessen gegenüber, deren jeweiliges Ziels es ist, ohne Rücksicht auf die dort (noch) lebende Bevölkerung die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Hinzu kommt die oben beschriebene Gefahr verstärkter terroristischer Anschläge durch den IS nach dessen territorialer Zurückdrängung (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018, Seite 15).

47 Zwar genügt es grundsätzlich nicht, dass im Herkunftsstaat des Ausländers ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht, der zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Denn für die individuelle Betroffenheit bedarf es einer Feststellung zur Gefahrendichte, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos umfasst. Erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, ist eine wertende Gesamtbetrachtung zur individuellen Betroffenheit des Klägers möglich, für den keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände festgestellt worden sind (BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24).

48 Hier ist im Rahmen der wertenden Gesamtbetrachtung zur individuellen Betroffenheit allerdings zu berücksichtigen, dass es, wie ausführlich dargestellt, in jüngster Vergangenheit zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Yeziden in der Provinz Ninawa gekommen ist. Es kam zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsvertreibungen und Massenmord (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14. November 2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018, S. 11). Zwar sind mittlerweile teilweise Bewohner in diese Region zurückgekehrt, große Teile der Bevölkerung, die nicht getötet worden sind oder sich noch immer in den Händen des IS befinden, lehnen eine Rückkehr aber derzeit ab, weil sie eine fortbestehende Gefahrenlage annehmen, der sie sich auszusetzen nicht bereit sind, weil eine Rückkehr von dritter Seite aus gezielt verhindert wird oder wesentliche Teile der Region völlig zerstört sind und ein Wiederaufbau noch nicht begonnen hat. Bei dieser Ausgangslage ist eine realistische Einschätzung des Gefährdungsrisikos nicht möglich. Dies kann jedoch nicht zu Lasten des Klägers gehen.

49 Bei einer Schädigung durch nichtstaatliche Akteure ist Voraussetzung, dass der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des § 3 d AsylG zu bieten. Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehend sein. Dies ist nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln derzeit anzunehmen.

50 3. Es besteht auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung für den Kläger keine zumutbare inländische Fluchtalternative (§ 3 e AsylG).

51 Nach § 4 Abs. 3, § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG wird einem Ausländer der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keinen ernsthaften Schaden zu befürchten hat oder Zugang zu Schutz gegen einen solchen nach § 3d AsylG hat und 2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

52 Dem Kläger steht vor der ihm drohenden Gefahr eines ernsthaften Schadens eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG in anderen Landesteilen des Irak derzeit nicht zur Verfügung (ebenso VG Hannover, Urt. v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17 -; VG Oldenburg, Urt. v. 23.08.2017 - 3 A 3903/16 -, juris Rdnr. 38ff, und 28.06.2017 - 3 A 4969/16 -, juris Rdnr. 39 – 43; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A -, juris Rdnr. 103ff). Personen, die aus der Provinz Ninawa fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu sicheren Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 10f). Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt. Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder "Dienste" für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird. Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und - bisweilen gegen ihren Willen - in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Auch sind die Flüchtlingslager im Nordirak sämtlich überfüllt und die humanitären Verhältnisse in den Lagern sehr schlecht (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 10f; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.02.2018, S. 18, 22-23). Auch das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass sich die kurdische Regionalregierung auch wegen der eigenen Finanzkrise kaum noch in der Lage sehe, weiter Flüchtlinge aufzunehmen und die Versorgung der Flüchtlinge schon jetzt nur durch umfangreiche internationale Unterstützung möglich sei (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2018, S. 18).

53 Danach kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in einem anderen Landesteil des Irak Aufnahme finden kann. Denn Anhaltspunkte dafür, dass sich Familienangehörigen in einem nicht umkämpften Landesteil außerhalb eines Flüchtlingslagers in gesicherten Verhältnissen aufhalten, sind nicht ersichtlich. [...]