VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 27.02.2018 - 15 A 883/17 - asyl.net: M26409
https://www.asyl.net/rsdb/M26409
Leitsatz:

1. Derzeit ist nicht von einer Gruppenverfolgung der Yeziden aus dem Gebiet Shingal/ Sindjar/ Sindschar auszugehen.

2. Allein die Zugehörigkeit zur Sheikh-Kaste genügt nicht, um daraus im Falle der Rückkehr eine konkrete Verfolgungsgefahr herzuleiten.

3. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes liegen vor.

4. Im Einzelfall kann eine inländische Fluchtalternative in die Region Kurdistan-Irak angenommen werden (hier verneint).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung, subsidiärer Schutz, interne Fluchtalternative, religiöse Verfolgung, Verfolgungsgefahr,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AsylG § 3e
Auszüge:

[...]
37 Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass die Furcht des Klägers vor zukünftiger Verfolgung begründet ist, weil, wenn man eine Gruppenverfolgung zum Zeitpunkt der Ausreise bejaht, eine Verfolgung in der Vergangenheit bestand, ist im vorliegenden Fall aber widerlegt, da stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Sindschar erneut von einer Gruppenverfolgung bedroht sein wird. Denn der IS wurde zwischenzeitlich deutlich nach Süden bzw. Südwesten zurückgedrängt. Er hat einen Großteil des eroberten Territoriums und damit einhergehend wichtige Einnahmequellen aus Ölverkäufen wieder verloren (https://isis.liveuamap.com/en/time/27.02.2018). Die Städte Sindschar und Ramadi wurden bereits Ende 2015 zurückerobert (Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 7. Februar 2017, S. 12), Qaraqosh, Tal Kayf, Bashiqa und Bartalla wurden Ende 2016/ Anfang 2017 befreit (Lifos Thematic Report "The security situation in Iraq: July 2016 – November 2017" vom 18. Dezember 2017, Seite 24), Mosul im Juli 2017 (vgl. nur www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/irak-mossul-befreiungislamischer-staat-al-abadi?print; www.tagesschau.de/ausland/irak-mossul-121.html), und weite Teile der 70 km westlich von Mosul gelegenen Stadt Tal Afar konnten infolge der am 20. August 2017 begonnenen Offensive der irakischen Armee und der US-geführten Anti-IS-Koalition Ende August 2018 als vom IS befreit beschrieben werden (vgl. www.zeit.de/politik/ausland/2017-08/irak-islamischer-staat-tal-afar-befreit; www.zeit.de/politik/2017-08/islamischer-staat-irakische-armee-tal-afar-zurueckerobert; mobil.stern.de/news/irakische-armee-erobert-tal-afar-von-dschihadistenmiliz-is-zurueck-7595160.html? utm_campaign=alle-nachrichten&utm_medium=rss-feed&utm_source=standard,). Ab dem 3. November 2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 % jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welche er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte. Kleinere Wüstengebiete gehören nach wie vor noch zum IS-Terrain. Der IS befindet sich auch noch in Teilen der Provinzen Ninewa, Salah-Din und Anbar. Einzelne Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu den Gebieten, die für die Streitkräfte noch schwer zu halten sind. (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl - BFA - der Republik Österreich vom 24. August 2017/23. November 2017, S. 8, 18, 20, 48 ff.). Am 9. Dezember 2017 hat der irakische Premierminister al-Abadi die Niederlage des IS im gesamten Staatsgebiet verkündet und im Hinblick darauf, dass nationale Sicherheitskräfte das Staatsgebiet kontrollieren, den Krieg gegen die Gruppierung für beendet erklärt (ACCORD, 9. Dezember 2017, unter Hinweis auf BBC-News bzw. Radio Free Europe/ Radio Liberty). Die Front verläuft mittlerweile seit mehreren Monaten in rund 70 km Entfernung südlich von Sindschar (vgl. hierzu das täglich aktualisierte Kartenmaterial unter https://isis.liveuamap.com/en/time/27.02.201).

38 Gegen eine fortbestehende Gefahr für Yeziden spricht auch, dass mittlerweile Yeziden wieder in das Gebiet von Sindschar zurückkehren. Der stellvertretende Bürgermeister von Sindschar berichtete im Dezember 2017, dass seit der Befreiung von Sindschar schätzungsweise 4.130 Familien in den Distrikt Sindschar zurückgekehrt seien, insbesondere yezidische Familien aus Sinune und Sindschar. Die humanitären Hilfsorganisationen beziffern die Zahl der Rückkehrer auf 2.000, teilweise ist auch von 15 % der früheren Bevölkerung die Rede. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass im Januar 2018 8.152 Familien im Distrikt Sindschar einschließlich des Sindschar-Gebirges leben. Bei der weit überwiegenden Zahl der Rückkehrer handelt es sich um Yeziden (vgl. UNHCR, Iraq Protection Cluster: Ninewa Returnees Profile - Januar 2018; IOM Iraq, Displacement Tracking Matrix DTM Round 88, Januar 2018; Samaritan’s Purse, Post-Conflict Assessment Minority Communities in Ninewa, Januar 2018, reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources /SP%20Post%20Conflict%20Assessment_Ninewa%202018_Report_010817_final%5B1%5D.pdf; Thomas Reuters Foundation, „Yazidis caught in ‚political football‘ between Baghdad, Iraqi Kurds“, vom 10. Dezember 2017, http://news.trust.org/item/20171210123241-prey1/).

39 Dass der IS wieder in Richtung Norden ziehen wird und damit erneute Übergriffe auf die religiösen Minderheiten in der Region zu befürchten sind, erscheint angesichts der zwischenzeitlichen Erfolge der Allianz nahezu ausgeschlossen (ebenso VG Augsburg, Urteile vom 15. Januar 2018 - Au 5 K 17.35594 -, juris Rn. 40, und vom 3. April 2017 - Au 5 K 17.30512 -, juris Rn. 22; VG Oldenburg, Urteil vom 7. Juni 2017 - 3 A 3731/16 -, juris Rn. 37; VG Karlsruhe, Urteil vom 10. Oktober 2017 - A 10 K 1508/17 -, juris Rn. 29).

40 dd) Daraus, dass Sindschar eine hohe Bedeutung für verschiedene rivalisierende Gruppen mit völlig unterschiedlichen Interessenlagen hat (vgl. dazu etwa mena-watch, Jesiden im Irak: Bittere Befreiung vom IS, vom 30. Mai 2017, www.mena-watch.com/sinjar-bittere-befreiung/; FAZ vom 25. November 2015, „Befreiung vom IS: Die Schmach von Sindschar sitzt tief“, www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegenden-terror/keine-ruhe-in-sindschar-trotz-peschmerga-befreiung-vom-is-13928029.html?printPagedArticle= true#pageIndex_0) und dementsprechend nach wie vor um die Vorherrschaft über dieses Gebiet gekämpft wird, insbesondere durch Anhänger der offiziell der irakischen Regierung unterstehenden, aber iranisch unterstützten Einheiten der Volksmobilisierung al-Hashd al-Shaabi (PMU - Popular Mobilization Unit), eine aus 60 bis 70 Milizen bestehende paramilitärische Einheit, die zusammen etwa 140.000, teilweise auch yezidische Kämpfer befehligen und maßgeblichen Anteil an der Vertreibung des IS aus dem Gebiet hatte (vgl. insbesondere zu den politischen Zielen der PMU etwa C.A. Ohlers, Jamestown Foundation, "The Uncertain Future of Iraq’s Popular Mobilization Units", Terrorism Monitor, In-depth analysis of the War on Terror, Vol. XVI, Issue 3, 8. Februar 2018, jamestown.org/wp-content/uploads/2018/02/TM_February-8-2018.pdf?x87069; vgl. auch Institute for the Study of War, Iraqi security forces and popular mobilization forces: orders of battle, Dezember 2017, www.understandingwar.org/report/iraqi-security-forces-and-popularmobilization-forces-orders-battle-0; ACCORD: Anfragebeantwortung zum Irak: (Zwangs-)Rekrutierung durch schiitische Milizen: Sunniten, Schiiten, spezifische Gruppen; Konsequenzen bei Entziehung einer Rekrutierung [a-10079], 27. März 2017, www.ecoi.net/de/dokument/1396974.html), daneben aber auch durch irakische Söldner, das türkische Militär, Peschmerga und Guerilla der PKK lässt sich nicht herleiten, dass nach wie vor eine Verfolgung der aus diesem Gebiet stammenden Yesiden gerade aufgrund ihrer yezidischen Glaubenszugehörigkeit droht und damit ein für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlicher Verfolgungsgrund i.S.d. § 3 b AsylG vorliegt. Vielmehr legen die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel (u.a. auch der Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017) vom 12. Februar 2018 sowie ACCORD vom 2. Oktober 2017, Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa) nahe, dass für diese Gruppen mit ihren widerstreitenden Interessen die Glaubenszugehörigkeit der im Distrikt Sindschar lebenden Personen keine Rolle spielt. [...]

47 Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sind hier gegeben. Danach gilt als ernsthafter Schaden eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (entsprechend Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU). Vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auszugehen, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist (EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 - C-285/12 -, Leitsatz). Für die Frage, ob eine Person bei Rückkehr in den Irak einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist, ist auf die tatsächlichen Verhältnisse in ihrer Herkunftsregion abzustellen (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 16, und vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 -, juris Rn. 17). Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt nicht schon bei inneren Unruhen und Spannungen wie Tumulten, vereinzelt auftretenden Gewalttaten oder ähnlichen Handlungen vor. Vielmehr muss ein Konflikt ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie dies etwa bei Bürgerkriegsauseinandersetzungen oder Guerillakämpfen der Fall ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 - juris Rn. 22).

48 Nach diesen Maßgaben ist hier davon auszugehen, dass für den Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak eine individuelle Bedrohung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegt. Wie bereits ausgeführt stehen sich aufgrund der großen symbolischen, strategischen und politischen Bedeutung Sindschars mit Einheiten der Volksmobilisierung al-Hashd al-Shaab, irakischen Söldnern, dem türkischen Militär, Peschmerga und Guerilla der PKK verschiedene rivalisierende und bewaffnete Gruppen mit gegenläufigen Interessen gegenüber, deren jeweiliges Ziels es ist, ohne Rücksicht auf die dort (noch) lebende Bevölkerung die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Hinzu kommt die Gefahr verstärkter terroristischer Anschläge durch den IS nach dessen territorialer Zurückdrängung (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018, Seite 15).

49 Zwar genügt es grundsätzlich nicht, dass im Herkunftsstaat des Ausländers ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht, der zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Denn für die individuelle Betroffenheit bedarf es einer Feststellung zur Gefahrendichte, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos umfasst. Erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, ist eine wertende Gesamtbetrachtung zur individuellen Betroffenheit des Klägers möglich, für den keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände festgestellt worden sind (BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24).

50 Hier ist im Rahmen der wertenden Gesamtbetrachtung zur individuellen Betroffenheit allerdings zu berücksichtigen, dass es, wie ausführlich dargestellt, in jüngster Vergangenheit zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen die im Bereich Sindschar lebende Bevölkerung, zu der auch der Kläger gehörte, gekommen ist. Es kam zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsvertreibungen und Massenmord (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14. November 2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018, S. 11). Zwar sind mittlerweile teilweise Bewohner in diese Region zurückgekehrt, große Teile der Bevölkerung, die nicht getötet worden sind oder sich noch immer in den Händen des IS befinden, lehnen eine Rückkehr aber derzeit ab, weil sie eine fortbestehende Gefahrenlage annehmen, der sie sich auszusetzen nicht bereit sind, weil eine Rückkehr von dritter Seite aus gezielt verhindert wird oder wesentliche Teile der Region völlig zerstört sind und ein Wiederaufbau noch nicht begonnen hat. Der IS hat sich nach der Vertreibung der Bevölkerung mehr als ein Jahr lang in der Stadt festgesetzt, bis die internationale Koalition begonnen hat, den IS aus der Luft zu bombardieren. Der Wiederaufbau der Stadt hat noch nicht begonnen (vgl. etwa Berichte aus Sindschar vom 25. Oktober und 29. November 2016, 10. Dezember 2017, www.schwaebische.de/ueberregional/politik_artikel,-ein-angriff-aus-der-ebene-_arid,10551663.html; www.schwaebische.de/ueberregional/politik artikel,- verbrannte-erde-im-irak- _arid,10572511.html; www.schwaebische.de/ueberregional/politik_artikel,-der-br%C3%BCchige-frieden-im-nordirak-_arid,10784554.html; Bericht vom 7. September 2016 zu Sindschar, www.tagesspiegel.de/themen/reportage/jesiden-im-nordirak-er-bricht-zusammen-alswuerde- die-wirklichkeit-ueber-ihn-hereinbrechen/14020214-2.html; Bericht vom 21. August 2017 zum Sindschar-Gebirge, www.deutschlandfunk.de/sindschar-gebirge-im-nordirak-zoegerliche-rueckkehrder.1773.de.html?dram:article_id=393957; Samaritan’s Purse, Post-Conflict Assessment Minority Communities in Ninewa, Januar 2018, S. 5; ACCORD vom 2. Oktober 2017, S. 9; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018, S. 11).

51 Bei dieser Ausgangslage ist eine auch nur ansatzweise Einschätzung des Gefährdungsrisikos auf der Grundlage der bereits nicht valide erhobenen Gewalthandlungen der verschiedenen sich in Sindschar gegenüberstehenden Konfliktparteien (vgl. www.iraqbodycount.org/database/, die für die Provinz Ninewa keine aktuellen Daten enthält) gegen die bisher gegenüber der früheren Bevölkerungsdichte zudem nur in geringer Zahl zurückgekehrten Personen nicht möglich. Dies kann jedoch nicht zu Lasten des Klägers gehen. [...]