SG Lüneburg

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Zitieren als:
SG Lüneburg, Urteil vom 22.02.2018 - S 26 AY 26/17 - asyl.net: M26412
https://www.asyl.net/rsdb/M26412
Leitsatz:

Begibt sich ein Leistungsberechtigter ins Kirchenasyl, um den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu verhindern, begründet dies die Annahme eines rechtsmissbräuchliches Verhaltens nach § 2 Abs. 1 AsylbLG.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Kirchenasyl, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Analogleistungen,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1, AsylbLG § 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

22 Hiervon ausgehend ist auch vorliegend von einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer auszugehen. Dafür spricht bereits die Einreise des Klägers aus Ungarn. Denn gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) ist ein Asylantrag bereits unzulässig, wenn aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist; vorliegend war nach den Zuständigkeitskriterien der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-Verordnung) Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig und zur Übernahme des Klägers verpflichtet. Bei derartiger Zuständigkeit eines anderen Staates erweist sich nach Auffassung des erkennenden SG bereits der weitere Aufenthalt in der Bundesrepublik als rechtsmissbräuchlich, was den Bezug von Analogleistungen ausschließt (ebenso Deibel in GK - AsylbLG (Stand: Juni 2017), § 2 Rd. 53 f). Denn nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteile vom 14. Mai 1996, Az.: 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 21.12.2011, Az.: – C-411/10 und C-493/10 –, juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtscharta) entspricht. Dementsprechend ist das Asylverfahren auch nur in dem nach den einschlägigen Vorschriften zuständigen Staat durchzuführen und erweist sich der Aufenthalt im Bundesgebiet als nicht zuständigem Staat als rechtsmissbräuchlich. Anhaltspunkte, die vorliegend eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, bestehen nicht; dies ergibt sich nicht zuletzt auch daraus, dass der vor dem VG Lüneburg vom Kläger gestellte Antrag auf Abschiebungsschutz abgelehnt worden war.

23 Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liegt weiterhin darin, dass der Kläger sich dem Zugriff der staatlichen Behörden entzogen und die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen verhindert hat. Denn unzweifelhaft konnte die für 08. Mai 2014 geplante und bereits terminierte Abschiebung nach Ungarn nur deshalb nicht durchgeführt werden, da er in seiner Unterkunft nicht angetroffen werden konnte und für die zuständige Behörde nicht erreichbar war. Soweit er behauptet, sich ab 31. März 2014 im Kirchenasyl befunden zu haben, ist dies bislang nicht belegt; eine Bestätigung über die Einräumung von Kirchenasyl liegt erst für den Zeitraum ab 16. Mai 2014 vor, während der Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der geplanten Rücküberstellung am 08. Mai 2014 unbekannt ist. Die bloße Mitteilung seiner Rechtsanwälte, dass er sich in das Kirchenasyl begeben habe, ist nicht ausreichend, um die tatsächliche Inanspruchnahme von Kirchenasyl, die von der Kirchengemeinde regelmäßig schriftlich bestätigt wird, zu belegen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass es sich um einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum handelt; nach der maßgebenden generell-abstrakten Betrachtungsweise ist hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes ein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn nicht erforderlich, sondern reicht für die kausale Verbindung jedes von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten aus, das – typisierend – der vom Gesetzgeber missbilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen kann (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juni 2017, Az.: L 7 AY 2217/13 –, RdNr. 29, juris). Dies ist auch bei einem nur kurzzeitigen Untertauchen der Fall.

24 Abgesehen davon schließt Kirchenasyl nach Auffassung des erkennenden SG den Missbrauchstatbestand im Sinne von § 2 AsylbLG nicht aus. Zwar werden aufenthaltsbeendende Maßnahmen von den Ausländerbehörden während des Kirchenasyls nicht vollzogen. Dies ändert allerdings nichts an dem Umstand, dass Leistungsberechtigte, die sich freiwillig in das Kirchenasyl begeben, Vollzugsmaßnahmen zur Beendigung ihres Aufenthalts damit bewusst verhindern, indem sie sich dem Zugriff durch staatliche Vollzugsbehörden faktisch entziehen. Durch die Schaffung eines solchen faktischen Abschiebungshindernisses wird die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland durch ein Verhalten des Leistungsberechtigten aber gezielt beeinflusst, obwohl der Aufenthalt von der Rechtsordnung nicht mehr gedeckt ist bzw. die Verpflichtung zur Aufenthaltsbeendigung besteht (s.a. Deibel in GK-AsylbLG; a.A.: SG Stade, Beschluss vom 17. März 2016, Az.: S 19 AY 1/16 ER). [...]