VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 27.06.2018 - 17 A 2777/18 - asyl.net: M26423
https://www.asyl.net/rsdb/M26423
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine russische Staatsangehörige wegen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Zeugen Jehovas, Strafbarkeit, religiöse Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingseigenschaft, interne Fluchtalternative, Glaubwürdigkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

23 Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

24 Das Oberste Gericht der Russischen Föderation billigte am 20. April 2017 einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, 21. Mai 2018, S. 8). Die Organisation von oder die Teilnahme an Aktivitäten der Zeugen Jehovas ist demgemäß nach Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuches strafbar ("organization" of or "participation in" "the activity of a social or religious association or other organization in relation to which a court has adopted a decision legally in force on liquidation or ban on the activity in connection with the carrying out of extremist activity"). Es besteht daher zumindest ein Verbot des organisatorischen Zusammenhalts der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation und ihrer gemeinschaftlichen Religionsausübung. Dieser Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung stellt seiner Intensität nach eine Verfolgung im Sinne von § 3, 3a AsylG dar, denn den Zeugen Jehovas wird verboten, ihren Glauben im privaten Bereich und unter sich zu bekennen und Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in privater Gemeinschaft mit ihren Glaubensgenossen zu halten (vgl. BVerwG, Urt. v. 25. Oktober 1988, 9 C 37/88, juris, Rn. 14 f.). Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen, die das Gericht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, wird das Verbot der gemeinschaftlichen Religionsausübung tatsächlich durchgesetzt. Es gibt zahlreiche Berichte, wonach Zeugen Jehovas, die ihren Glauben aktiv ausüben, u.a. durch gemeinschaftliche Glaubensausübung im privaten Bereich, strafrechtlich verfolgt werden. Unabhängig von der rechtlichen Relevanz dieser Frage ist das Gericht auch davon überzeugt, dass es den Zeugen Jehovas nicht zugemutet werden kann, darauf zu vertrauen, dass im privaten Bereich abgehaltene Gottesdienste den russischen Behörden nicht bekannt werden würden. Denn es ist damit zu rechnen, dass die russischen Behörden auch von solchen Gottesdiensten Kenntnis erlangen werden. Zum einen ist davon auszugehen, dass die russischen Behörden aufgrund der bereits eingeleiteten, sich aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ergebenden, Verfolgungsmaßnahmen bereits umfangreiche Kenntnisse über die Anhänger der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation haben. Zum anderen ist auch damit zu rechnen, dass Zeugen Jehovas, wenn sie privat Gottesdienste abhalten, von ihren Nachbarn denunziert werden. Denn nach einer Umfrage des Levada Center befürwortet ca. 80% der russischen Bevölkerung das Verbot der Zeugen Jehovas, wobei 51% der Bevölkerung das Verbot sogar entscheidend ("decisively") befürwortet (Radio Free Europe / Radio Liberty, Poll Shows Majority Of Russians Support Ban On Jehovah's Witnesses, 13. Juli 2017, www.rferl.org/a/russia-jehovahs-witnesses-poll-majority-favor-ban/28615047.html). Zudem kam es infolge des Verbots der Zeugen Jehovas bereits zu einer Vielzahl von Gewalttaten gegenüber Anhängern der Zeugen Jehovas (Brandstiftung, Gewaltandrohungen, Vandalismus) (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, 21. Mai 2018, S. 8). [...]