VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 16.07.2018 - 4 A 83/18 - asyl.net: M26425
https://www.asyl.net/rsdb/M26425
Leitsatz:

Ausnahmsweise keine Haftung aus der Verpflichtungserklärung wegen unzumutbarer finanzieller Belastung:

1. Die Haftung aus einer Verpflichtungserklärung endet nicht mit Flüchtlingsanerkennung der begünstigten Person (ausdrücklich entgegen VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.07.2017 - 11 S 2338/16 - asyl.net: M25280 und im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 26.01.2017 - 1 C 10.16 (ASYLMAGAZIN 5/2017, s. 201 ff.) - asyl.net: M24833).

2. In der Regel ist die anspruchsberechtigte Behörde verpflichtet, Geldleistungsansprüche durchzusetzen. Bei atypischen Gegebenheiten hat sie jedoch im Ermessenswege zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird.

3. Vorliegend ist ein atypischer Ausnahmefall gegeben, da der Verpflichtungsgeber leistungsunfähig ist. Die Ausländerbehörde hat bereits bei der Entgegennahme der Verpflichtungserklärung die Leistungsfähigkeit des Verpflichtungsgebers falsch berechnet. Die erstattungsfordernde Behörde hat in rechtswidriger Weise den Sachverhalt nicht aufgeklärt und ihr Ermessen nicht ausgeübt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Ausnahmefall, Lebensunterhalt, Ermessen, Ermessensfehler, Flüchtlingsanerkennung, Aufenthaltszweck, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Leistungsfähigkeit,
Normen: AufenthG § 68, AufenthG § 23 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 2, BGB § 305c Abs. 2,
Auszüge:

[...]

21 Der streitbefangene Bescheid des Beklagten, mit welchen der Kläger zur Erstattung von 19.933,19 € herangezogen wird, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

22 Zwar bietet die hier maßgebliche Verpflichtungserklärung des Klägers eine Grundlage für die Erstattung der aus öffentlichen Mitteln für C. verauslagten Leistungen (1.), jedoch ist die Heranziehung des Klägers auf Grundlage dieser Verpflichtungserklärung rechtswidrig (2.). [...]

Die Verpflichtung ist auch nicht wegen vermeintlicher "Mehrdeutigkeit/Unklarheit" in Bezug auf den Zeitraum der eingegangenen Verpflichtung unwirksam. Auch ein mangelnder Rechtsbindungswillen des Verpflichtungsgebers ist nicht feststellbar. [...]

31 Mit der späteren Flüchtlingszuerkennung durch das Bundesamt und der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs.2 AufenthG durch die Ausländerbehörde hat sich der Aufenthaltszweck – auch aus Sicht des Klägers – nicht inhaltlich geändert, sondern erst Recht bestätigt. Auch die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG dient nämlich humanitären Zwecken.

32 In der schriftlichen Verpflichtungserklärung kommt auch mit keinem Wort zum Ausdruck, dass die Verpflichtung etwa bei Flüchtlingszuerkennung des Begünstigten enden sollte. [...]

33 Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf einen Runderlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 09.12.2014 (61.21 – 12230/ 1-8 (§ 68)) vorgetragen hat, es sei davon auszugehen, dass er über die Geltungsdauer der Verpflichtungserklärung nicht richtig informiert worden ist, führt auch dies zu keiner anderen Auslegung. [...]

37 Aus den zitierten Passagen geht nämlich auch hervor, dass bundesweit unterschiedliche Ansichten zur Geltungsdauer für Verpflichtungserklärungen vertreten werden. Eine hypothetische Information über die Geltungsdauer der Verpflichtungserklärung hätte also auch dahin erfolgen können, dass Niedersachsen zwar die Ansicht vertritt, dass mit Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG die Geltungsdauer endet, dass diese Ansicht aber umstritten und (bisher) nicht bundeseinheitlich verbindlich geklärt ist. Wäre der Verpflichtungsgeber in diesem Sinne von der Ausländerbehörde informiert worden, wäre er dann die Verpflichtungserklärung sehenden Auges im Hinblick auf die Möglichkeit eingegangen, dass diese nicht zwingend mit Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG endet.

38 Die demgegenüber abweichende Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urteil vom 12.07.2017, 11 S 2338/16, veröffentlicht in JURIS) wird vom Einzelrichter nicht geteilt, denn sie steht nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil v. 26.01.2017, 1 C 10/16, veröffentlicht in JURIS ) im Einklang. Die in der Entscheidung vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg erwogene Heranziehung von Auslegungsgrundsätzen bei der Verwendung von allgemeinen Geschäftsbedingungen (speziell § 305c Abs. 2 BGB) ist nach hier vertretener Ansicht nicht auf die Verpflichtungserklärung als einseitiger Willenserklärung des öffentlichen Rechts übertragbar, weil die Initiative zur Abgabe einer ausländerrechtlichen Verpflichtungserklärung typischerweise vom Verpflichtungsgeber und nicht der Behörde ausgeht. Zwar mag zur Vereinfachung ein Formular der Behörde Verwendung finden, dieses kann aber aus vorgenanntem Grunde nicht als einseitig vom Verwender gestellt im Sinne der zivilrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften werden. Ungeachtet dessen läge nach der Rechtsprechung zu § 305c Abs. 2 BGB ein nicht behebbarer Auslegungszweifel nur dann vor, wenn mindestens zwei Auslegungsergebnisse vertretbar sind und keines den klaren Vorzug verdient. Im Anschluss an die Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil v. 08.12.2017, 18 A 140/16, veröffentlicht in JURIS) ist jedoch dem vom Bundesverwaltungsgericht gefundenen Auslegungsergebnis gegenüber der Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg der Vorzug zu geben. [...]

46 2. Der Bescheid zur Kostenerstattung auf Grundlage der Verpflichtungserklärung ist gleichwohl rechtswidrig, denn der Beklagte die hier ausnahmsweise erforderliche Ermessensentscheidung über die Heranziehung des Klägers nicht getroffen.

47 Der Vorschrift des § 68 AufenthG ist zwar nicht zu entnehmen, ob die anspruchsberechtigte öffentliche Stelle den Verpflichteten heranziehen muss oder unter welchen Voraussetzungen sie davon absehen kann. Der Staat ist unter Berücksichtigung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des Gebots der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit öffentlicher Haushalte allerdings in der Regel verpflichtet, ihm zustehende Geldleistungsansprüche durchzusetzen, ohne dass dahingehende Ermessenserwägungen anzustellen wären. Ein Regelfall liegt vor, wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgenehmigung einschließlich der finanziellen Leistungsfähigkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren geprüft worden sind und nichts dafürspricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung führen könnte (OVG Lüneburg, Urteil v. 03.05.2018, 13 LB 2/17, veröffentlicht in JURIS).

48 Die erstattungsberechtigte Stelle hat allerdings ausnahmsweise bei atypischen Gegebenheiten zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit und Gerechtigkeit im Einzelfall im Wege des Ermessens zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Verpflichteten ggf. eingeräumt werden. Wann in diesem Sinne ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, ist anhand einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.04.2013,10 C 10.12; vom 13.02.2014, 1 C 4.13 und vom 26.01.2017, 1 C 10/16; OVG Lüneburg, Urteil v. 03.05.2018, 13 LB 2/17 alle veröffentlicht in JURIS).

49 Solch ein atypischer Einzelfall ist vorliegend gegeben.

50 Die Ausländerbehörde ist bereits bei der Entgegennahme der Verpflichtungserklärung zu Unrecht von der Leistungsfähigkeit des Klägers ausgegangen. Zwar hatte der Kläger erklärt, zur Übernahme der Verpflichtung wirtschaftlich in der Lage zu sein. Jedoch hatte er der Ausländerbehörde eine Verdienstbescheinigung über sein monatliches Nettoeinkommen über 900,00 € als angestellter Frisör vorgelegt, die seiner behaupteten Leistungsfähigkeit entgegenstand. Die von der Ausländerbehörde angestellte Überprüfungsberechnung (Bl. 54 d.A.), mit der sie zu der Bewertung kam, der Kläger sei zur Übernahme der Verpflichtungen finanziell in der Lage, ist nicht tragfähig. Die Ausländerbehörde hat nämlich von dem monatlichen Nettoeinkommen des Klägers lediglich den Bedarfssatz zur Sicherung des Existenzminimums (§ 27 a SGB XII) auf Seiten des Klägers/Verpflichtungsgebers und des Gastes (von damals jeweils 391,00 € für Alleinstehende) abgezogen.

51 Der Bedarfssatz zur Sicherung des Existenzminimums nach § 27a SGB XII umfasst dabei Aufwendungen für Nahrung, alkoholfreie Getränke, Freizeit, Unterhaltung, Kultur, Nachrichtenübermittlung, Bekleidung, Schuhe, Strom (ohne Heizung), Wohninstandhaltung, Innenausstattung, Haushaltsgeräte, Haushaltsgegenstände, andere Waren und Dienstleistungen, Verkehr, Gesundheitspflege, Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen sowie Bildung (vgl. hierzu www.hartziv.org/Regelsatz; Bundestagsdrucksache 17/3404 vom 26.10.2010). Daneben umfasst der Bedarf nach dem SGB XII als Hilfe zum Lebensunterhalt zusätzlich die Bedarfe für Kranken-/Pflegeversicherung (§ 32 SGB XII) und Unterkunft/Heizung (§ 35 SGB XII).

52 Die Ausländerbehörde hat bei der Überprüfungsberechnung unberücksichtigt gelassen, dass der Verpflichtungsgeber für sich selbst noch Kosten für Unterkunft/Heizung (Kranken-/Pflegeversicherungsbeiträge sind bereits beim Nettoeinkommen schon berücksichtigt) und für den Gast zusätzlich Kosten für Kranken/Pflegeversicherung und Unterkunft/Heizung zu tragen hat. Diese Kosten können offenkundig von einem hypothetischen Resteinkommen von monatlich 118,00 € (900,00 € - 2 x 391,00 €) nicht getragen werden. Somit war offenkundig, dass der Kläger von Anfang an nicht leistungsfähig war.

53 Die Leistungsunfähigkeit wird noch evidenter, wenn man den tatsächlich geforderten Erstattungsbetrag heranzieht: Zieht man nämlich für den Kläger/Verpflichtungsgeber von seinem damals nachgewiesenem monatlichen Nettoeinkommen von 900,00 € die Bedarfssätze nach SGB XII für das Existenzminimum und für Unterkunft/Heizung ab (Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge sind beim Nettoeinkommen schon berücksichtig), verbleibt kein Resteinkommen mehr, mit dem der durchschnittlich geforderte monatliche Erstattungsbetrag für den Gast von 687,00 € (= 19.933,19 € : 29 Monate) auch nur annähernd gedeckt wäre.

54 Ungeachtet dessen hat sich der Beklagte mit der Leistungsfähigkeit des Klägers sachlich überhaupt nicht auseinandergesetzt. Die Behörde, die die Verpflichtungserklärung des Klägers entgegengenommen hat und der Beklagte sind nicht identisch.

55 Der Kläger hat im Rahmen der Anhörung vor Erlass des Heranziehungsbescheides u.a. vorgetragen, dass im Hinblick auf sein Einkommen als Frisör ein atypischer Fall vorliege. Der Beklagte hat hierauf jedoch nicht weiter reagiert, wobei es nahegelegen hätte, aktuelle Einkommensnachweise oder den letzten Einkommenssteuerbescheid anzufordern. Der Beklagte hat noch nicht einmal bei der Ausländerbehörde nachgefragt, ob – und wenn ja durch welche Unterlagen – womöglich die finanzielle Leistungsfähigkeit des Klägers damals bei Entgegennahme der Verpflichtungserklärung nachgewiesen worden ist. [...]

56 In dem Bescheid des Beklagten selbst heißt es zwar "Unter Abwägung aller Gesichtspunkte, bin ich zu der Entscheidung gekommen, Sie zur Erstattung (…) aufzufordern. Weder ihr Vorbringen noch die Aktenlage lassen seine unbillige Härte erkennen." Hierbei handelt es sich jedoch um eine bloße allgemeine Leerformel, die belegt, dass sich der Beklagte überhaupt nicht mit dem Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt hat. [...] Indem der Beklagte aber eine bloße Leerformel verwendet hat, hat er nicht einfach nur "schlicht" ermessensdefizitär (im Hinblick auf den evidenten Aufklärungsmangel) entschieden, sondern de facto das Ermessen gar nicht ausgeübt. [...]