VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 06.08.2018 - 7 K 475/16.KS.A - asyl.net: M26452
https://www.asyl.net/rsdb/M26452
Leitsatz:

1. Auch die aktuellen Zahlen des jährlichen UNAMA-Reports für das Jahr 2017 belegen keine so hohe Wahrscheinlichkeit, in Kabul oder Herat allein aufgrund der dortigen Anwesenheit einer erheblichen, individuellen Gefahr aufgrund eines innerstaatlichen, bewaffneten Konflikts ausgesetzt zu sein, dass subsidiärer Schutz gem. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG zu gewähren wäre.

2. Kabul und Herat stellen inländische Fluchtalternativen i. S. d. § 3e Abs. 1 AsylG dar.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, interne Fluchtalternative, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, Depression, Attest, politische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Herat, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Nangarhar,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

aa) Der Kläger wäre in Kabul keiner Gefahr eines ernsthaften Schadens i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgesetzt.

Mit einer Verfolgung durch die Taliban ist dort nicht zu rechnen, weil der Kläger in der Millionenmetropole Kabul untertauchen und anonym leben könnte, ohne entdeckt zu werden. [...] Das Gericht ist der Überzeugung, dass eine Person sich ohne weiteres, gegebenenfalls unter falscher Identität, in einer afghanischen Großstadt aufhalten kann, ohne entdeckt oder identifiziert zu werden. [...] Es ist nicht ersichtlich, wie die verfeindeten Taliban aus der Umgebung des klägerischen Dorfes in der Provinz Nangahar unter den zuvor genannten Umständen den Aufenthaltsort des Klägers erfahren sollten. [...]

bb) Die Voraussetzung des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass der Kläger sicher und legal in den Landesteil reisen können muss, welcher die Fluchtalternative darstellt, ist ebenfalls erfüllt, da Kabul der übliche Zielort von Rückführungen nach Afghanistan ist (VG Würzburg, Urteil vom 17.03.2017 - W 1 K 16.30736 -, juris Rn. 37; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 102/16 -, juris Rn. 64).

cc) Von dem Kläger kann auch vernünftigerweise erwartet werden, sich in Kabul niederzulassen. [...]

Die Frage, ob in Landesteilen Afghanistans, etwa in der ehemaligen Heimatprovinz eines Klägers, willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts anzunehmen ist, kann dahinstehen. Denn jedenfalls bestehen im Hinblick auf eine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund eines bewaffneten, innerstaatlichen Konflikts für den Kläger inländische Fluchtalternativen gem. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG (so auch: VG Düsseldorf, Urteil vom 14.11.2017 - 9 K 12078/16.A -, juris Rn. 107 ff.). [...]

d) Neben Kabul stellt auch Herat eine inländische Fluchtalternative vor den Gefahren ernsthafter Schäden i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG dar. Selbst wenn man vor dem Hintergrund der angeblich guten Vernetzung der Taliban auch in Kabul und der vermehrten schweren Anschläge in Kabul im Januar 2018, welche freilich noch keine Langzeitprognose für 2018 rechtfertigen, Bedenken hinsichtlich Kabuls als innerstaatlicher Fluchtalternative hätte, so ist jedenfalls auch Herat als interne Schutzmöglichkeit gem. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG anzusehen.

Die oben unter aa) und c) genannten Ausführungen zum Fehlen individueller, gefahrerhöhender Umstände und zur Möglichkeit, anonym und unentdeckt zu leben, beanspruchen ebenfalls für die Provinz Herat Geltung. Eine erhebliche individuelle Gefahr für den Kläger trotz Fehlens individueller gefahrerhöhender Umstände ist in Herat auch nicht aufgrund eines besonders hohen Niveaus willkürlicher Gewalt anzunehmen.

In der westlichen Region Afghanistans, zu der auch die Provinz Herat zählt, wurden nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, unama.unmissions.org; Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, annual report 2017, S. 7) im Jahr 2017 insgesamt 998 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Ausgehend von einer Einwohnerzahl von insgesamt ca. 3,5 Millionen in dieser Region (VG München, Urteil vom 11.07.2017 - M 26 K 17.30939 -, juris Rn. 29), ergibt sich ein jährliches Risiko von 1 : 3.507, verletzt oder getötet zu werden. Selbst bei einer Verdreifachung der Anzahl der Verletzten und Getöteten aufgrund einer hohen Dunkelziffer ergäbe sich eine Wahrscheinlichkeit von 1 : 1196, was nach dem o.g., vom Bundesverwaltungsgericht gebilligten Maßstab keine erhebliche individuelle Gefahr darstellt.

Zum gleichen Ergebnis gelangt man bei alleiniger Betrachtung der Provinz Herat. Dort gab es im Jahr 2017 insgesamt 495 verletzte oder getötete Zivilisten, davon 238 Tote und 257 Verletzte (UNAMA, unama.unmissions.org; Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, midyear report 2017, S. 67). Bei einer Bevölkerungszahl in der Provinz Herat von ca. 1,9 Millionen Einwohnern (VG Lüneburg, Urteil vom 20.03.2017 - 3 A 124/16 -, juris Rn. 42) entspräche dies keinem für eine Schutzgewährung ausreichendem Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Dieses läge bei 1 : 3838, bei einer hypothetischen Verdreifachung bei 1 : 1279 (so im Ergebnis auch: VG Lüneburg, Urteil vom 20.03.2017 - 3 A 124/16 -, juris Rn. 44; VG Chemnitz, Urteil vom 21.08.2017 - 5 K 882/16.A -, juris; VG Hamburg, Urteil vom 29.03.2017 - 1 A 2464/15 -, juris Rn. 58 f.).

Der Kläger könnte sicher und legal i.S.d. § 3e AsylG nach Herat reisen. Wie bereits dargelegt, ist üblicher Zielort von Rückführungen abgelehnter Asylbewerber Kabul. Von dort aus fliegen täglich drei Flugzeuge der afghanischen Fluglinie Kam Air zum Flughafen von Herat. Darüber hinaus gibt es einige internationale Flüge nach Herat (EASO country report 2017, S. 127 f.).

Schließlich kann vom Kläger auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in Herat niederlässt.

Die Provinz und die Stadt Herat sind schon seit langem Zielort zahlreicher, oft mittelloser Binnenflüchtlinge aus (instabileren und umkämpften) umliegenden Gebieten. Kürzlich initiierte Maßnahmen zur dauerhaften lokalen Integration und Neuansiedlung haben erste Erfolge gezeigt, dennoch besteht weiterer Investitionsbedarf in den Bereichen Unterkunft, Infrastruktur, grundlegende Dienste und Möglichkeiten der Existenzsicherung. Die Prüfung, ob Herat als interne Schutzalternative vorgeschlagen werden kann, bedarf nach Ansicht des UNHCR die Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes Einzelfalls (Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Stand: Dezember 2016, S. 8 f.).

Laut EASO wohnen in Herat zwischen ca. 477.000 und 730.000 Menschen. Herat verfügt über eine starke und relativ vielfältige Wirtschaft. Neben der Mehrheit der Paschtunen leben dort auch viele schiitische Hazara. Diese machen ein Viertel der Stadtpopulation aus. (EASO country report 2017, S. 17 f.). Herat ist einer von Afghanistans größten Handelspunkten, allerdings wird ein Rückgang des Handelsvolumens aufgrund der stagnierenden Wirtschaft erwartet, auch ist die dortige Wirtschaft anfällig für Unsicherheit und politische Instabilität, weshalb seit der zweiten Jahreshälfte 2015 ein sich verschlechterndes Wirtschaftsklima zu verzeichnen ist. 2015 waren 58,6 % der Stadtbevölkerung im Alter von über 14 Jahren arbeitslos. Der Sektor der kleinen und mittleren Unternehmen ist in Herat stark entwickelt, insbesondere betreffend das Handwerk, die Teppichherstellung und die Seidenproduktion und -verarbeitung. Es gibt aber auch Fabriken, z.B. für Schuhe, Handys und Kühlschränke. Allerdings sind die Investitionen aufgrund der Konkurrenzprodukte aus dem Iran zuletzt zurückgegangen. Die ganz überwiegende Mehrheit der beruflichen Möglichkeiten in Herat beruht auf Tagesarbeit oder selbstständigem Kleinunternehmertum, wohingegen fest angestellte, bezahlte Arbeiter nur eine kleine Minderheit ausmachen. Die Lage für Rückkehrer ist eine ähnliche wie die in Kabul. Die mit Abstand wichtigste Einkommensquelle sind Gelegenheitsarbeiten, z.B. im Bausektor, beim Warentransport auf Märkten, Betteln oder Wolle spinnen (EASO country report 2017, S. 28 ff.).

In Herat leben 82 % der Haushalte unter der Armutsgrenze (EASO country report 2017, S. 41). Rückkehrern nach Herat ergeht es allerdings besser als Rückkehrern in anderen afghanischen Großstädten, auch wenn selbst die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Unterkunft, Zugang zu Wasser, Hygiene und Bildung Schwierigkeiten bereiten kann. Insbesondere Nahrung ist in Herat im Vergleich zu anderen Städten verhältnismäßig teuer, auf der anderen Seite kann man, wenn man Arbeit findet, von einem Tageslohn verhältnismäßig viel Weizenmehl erwerben. Hilfsprogramme für Hungernde sind in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Fälle von Hungertoden sind nicht bekannt. Hinsichtlich der Wohnungslage gilt, dass viele Flüchtlinge in Notbehelfswohnungen oder Zelten leben, die nur unzureichend vor den Witterungsbedingungen, insbesondere der extremen Winterkälte schützen. Der Zugang zu (sauberem) Wasser und Sanitäreinrichtungen ist mangelhaft (EASO country report 2017, S. 41, 44, 63 f.).

Der Zugang zu medizinischer Versorgung in Herat ist besser als in anderen Großstädten. Das dortige Gesundheitssystem ist immer noch im Ausbau befindlich. Psychotherapie und Medikamente sind in alle Gesundheitszentren der Provinz verfügbar. Für einfachere Beschwerden können sich Rückkehrer an die kostenlosen staatlichen Stellen wenden, bei komplexen und schwereren Erkrankungen ist jedoch ein Zugang zu den kostenpflichtigen Privatkliniken erforderlich. Die zwei staatlichen Kliniken sind überfüllt und leiden z.B. an Medikamentenmangel. Die NGO World Vision bietet medizinische Hilfe in den Flüchtlingssiedlungen an, kann aber nicht alle Fälle, insbesondere Notfälle, abdecken (EASO country report 2017, S. 57 f.).

Gemessen daran würde es dem Kläger nach Auffassung des Gerichts voraussichtlich möglich sein, in Herat wirtschaftlich Fuß zu fassen (so auch: VG Leipzig, Urteil vom 08.12.2017 - 8 K 1290/17.A,- juris; VG Ansbach, Urteil vom 27. Mai 2016 - AN 11 K 16.30149 -, juris Rn. 33). Wie dargelegt, ist die Lage in Herat zwar prekär, sofern man mittellos ist. Es ist aber dort üblich und relativ leicht möglich, Arbeit als Tagelöhner zu finden und sich auf diese Weise angemessen zu versorgen. Wie bereits erläutert ist der Kläger hinreichend jung, männlich und gesund. Auf die obigen Ausführungen zu Kabul wird verwiesen. [...]