EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 Gnandi gg. Belgien - Asylmagazin 9/2018, S. 310 ff. - asyl.net: M26457
https://www.asyl.net/rsdb/M26457
Leitsatz:

Rechtsbehelf gegen Rückkehrentscheidung muss aufschiebende Wirkung haben:

1. Eine Rückkehrentscheidung kann unmittelbar nach Ablehnung eines Asylantrags noch vor Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Rechtsmittel erlassen werden. Die Voraussetzungen für eine solche Entscheidung nach der Rückführungsrichtlinie liegen vor, da der Aufenthalt von Asylsuchenden bei Asylantragsablehnung illegal wird. Dem steht das Recht auf Verbleib zur Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht entgegen. Der Erlass einer Rückkehrentscheidung zusammen mit der Entscheidung über die Aufenthaltsbeendigung ist zudem ausdrücklich in Art. 6 Abs. 6 RückfRL vorgesehen.

2. Die Rückkehrentscheidung darf allerdings erst nach Rechtskraft der Ablehnung ausgeführt werden. Es muss ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf gewährleistet werden, wobei der Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren ist. Daher ist das Rückführungsverfahren während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, bei Einlegung, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf voll auszusetzen. Das heißt es darf keine zwangsweise Vollstreckung oder Abschiebungshaft erfolgen und die Frist für die freiwillige Ausreise beginnt nicht zu laufen.

3. Betroffene behalten ihren Status als Schutzsuchende, solange noch nicht endgültig über ihren Asylantrag entscheiden wurde. Daher bleibt ihr Aufenthalt gestattet und ihnen sind die Rechte aus der Aufnahmerichtlinie zu gewährleisten.

4. Bis zum Ende des Rechtsbehelfsverfahrens müssen Schutzsuchende die Möglichkeit haben, alle wesentlichen Änderungen geltend zu machen, die einen Einfluss auf die Entscheidung haben können. Zudem müssen die Betroffenen umfassend und verständlich über ihre Rechte und die Wirkungen eines Rechtsbehelfs informiert werden.

(Leitsätze der Redaktion; siehe asyl.net Meldung vom 22.8.2018 und vom 23.9.2019)

Anmerkung:

Siehe auch:

  • Zum Rechtsschutz bei Ablehnung als "offensichtlich unbegründet": BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 19.19 - asyl.net: M28424
  • Zum Rechtsschutz bei Ablehnung als "einfach unbegründet": BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 1.19; ähnlich: 1 C 20.19, 1 C 21.19, 1 C 22.19 - asyl.net: M28423
Schlagwörter: Asylverfahren, Rückkehrentscheidung, effektiver Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Non-Refoulement, Refoulement, Abschiebungsandrohung, Rückführungsrichtlinie, Asylverfahrensrichtlinie, illegaler Aufenthalt, Abschiebungshaft, Abschiebung, Aufnahmerichtlinie, Sozialleistungen, Gnandi, Affum, Belgien, Vorabentscheidungsverfahren, EuGH,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 6, RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 4, RL 2008/115/EG Art. 2 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 9, RL 2005/85/EG Art. 7 Abs. 1, RL 2005/85/EG Art. 39 Abs. 3, RL 2013/32/EU Art. 9 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 46, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 5, GR-Charta Art. 18, GR-Charta Art. 19 Abs. 2, GR-Charta Art. 47,
Auszüge:

[…]

Zur Vorlagefrage

35 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85 und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in Art. 18, in Art. 19 Abs. 2 und in Art. 47 der Charta verankert sind, dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 entgegensteht, die sich gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der internationalen Schutz beantragt hat, und die ergeht, nachdem dieser Antrag von der zuständigen Behörde abgelehnt wurde und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen seine Ablehnung.

36 Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zutreffend als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 eingestuft hat.

[…]

37 Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 findet die Richtlinie 2008/115 Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige. Speziell in Bezug auf Rückkehrentscheidungen sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten eine solche Entscheidung grundsätzlich gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen erlassen.

38 Um zu klären, ob gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, sobald die zuständige Behörde seinen Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt hat, ist daher als Erstes zu prüfen, ob ein solcher Drittstaatsangehöriger ab dieser Ablehnung illegal aufhältig im Sinne der Richtlinie 2008/115 ist.

39 Insoweit geht aus der Definition des Begriffs "illegaler Aufenthalt" in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, in dessen Hoheitsgebiet befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist (Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 48).

40 Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung, mit der der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, im Mitgliedstaat verbleiben. Zwar ergibt sich, wie es in dieser Bestimmung ausdrücklich heißt, aus der Bleibeberechtigung kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel, doch geht u. a. aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass die Bleibeberechtigung verhindert, dass der Aufenthalt einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in der Zeit zwischen der Stellung ihres Antrags auf internationalen Schutz und dem Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über ihn als "illegal" im Sinne der Richtlinie 2008/115 eingestuft wird.

41 Wie aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 klar hervorgeht, endet die darin vorgesehene Bleibeberechtigung, wenn die zuständige Behörde die erstinstanzliche Entscheidung erlässt, mit der sie den Antrag auf internationalen Schutz ablehnt. Mangels einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels auf einer anderen Rechtsgrundlage – insbesondere nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 –, die es dem erfolglosen Antragsteller ermöglicht, die Voraussetzungen für die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, hat die Ablehnung des Antrags zur Folge, dass der Antragsteller danach diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, so dass sein Aufenthalt illegal wird.

42 Nach Art. 39 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 können die Mitgliedstaaten zwar Vorschriften festlegen, wonach sich Personen, die internationalen Schutz beantragen, bis zur Entscheidung über ihren Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten dürfen.

[…]

43 Ferner trifft es zu, dass der Gerichtshof in den Rn. 47 und 49 des Urteils vom 30. Mai 2013, Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343), entschieden hat, dass eine zur wirksamen Ausübung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz erteilte Bleibeberechtigung verhindert, dass auf den Drittstaatsangehörigen, der den Antrag gestellt hat, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen seine Ablehnung die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet.

44 Aus diesem Urteil lässt sich jedoch nicht ableiten, dass eine solche Bleibeberechtigung die Annahme ausschlösse, dass ab der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz und vorbehaltlich des Vorliegens einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils genannten Art der Aufenthalt des Betroffenen illegal im Sinne der Richtlinie 2008/115 wird.

[…]

46 Zweitens macht weder Art. 3 Nr. 2 noch eine andere Bestimmung der Richtlinie 2008/115 die Illegalität des Aufenthalts davon abhängig, wie über einen Rechtsbehelf gegen eine den legalen Aufenthalt beendende behördliche Entscheidung entschieden wird, oder davon, dass eine Bleibeberechtigung bis zur Entscheidung über einen solchen Rechtsbehelf fehlt

[…]

47 Drittens beruht die Richtlinie 2008/115 nicht auf dem Gedanken, dass die Illegalität des Aufenthalts und damit die Anwendbarkeit der Richtlinie voraussetzen, dass ein Drittstaatsangehöriger keine rechtliche Möglichkeit hat, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben, insbesondere bis zur Entscheidung über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die den legalen Aufenthalt beendende Entscheidung. Vielmehr findet die Richtlinie – wie aus ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht – auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die, obwohl sie sich unrechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten, dort bleiben dürfen, da sie noch nicht abgeschoben werden können. Insbesondere sieht Art. 7 der Richtlinie vor, dass den Betreffenden eine angemessene Frist für die freiwillige Ausreise zu setzen ist und dass sie während dieser Frist, obwohl sie illegal aufhältig sind, noch bleiben dürfen. Ferner sind die Mitgliedstaaten nach den Art. 5 und 9 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet, in Bezug auf illegal aufhältige Drittstaatsangehörige den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten und ihre Abschiebung aufzuschieben, wenn sie gegen diesen Grundsatz verstoßen würde.

48 Viertens besteht das Hauptziel der Richtlinie 2008/115 – wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 hervorgeht – in der Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2014, Pham, C‑474/13, EU:C:2014:2096, Rn. 20, und vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49 Dieses Ziel findet besonderen Ausdruck in Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115, der es den Mitgliedstaaten ausdrücklich gestattet, mit einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung des legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Denn diese Möglichkeit, beide Entscheidungen in einer einzigen behördlichen Entscheidung zusammenzufassen, erlaubt es den Mitgliedstaaten, den Gleichlauf oder die Verbindung der zu den genannten Entscheidungen führenden Verwaltungsverfahren sowie der gegen sie eingelegten Rechtsbehelfe sicherzustellen. Wie insbesondere die tschechische, die deutsche und die niederländische Regierung vorgetragen haben, lassen sich durch eine solche Möglichkeit zur Zusammenfassung auch praktische Schwierigkeiten bei der Zustellung der Rückkehrentscheidungen überwinden.

50 Eine Auslegung der Richtlinie 2008/115, wonach die Illegalität des Aufenthalts allein wegen des Vorliegens einer Erlaubnis, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz zu bleiben, ausgeschlossen wäre, würde der Möglichkeit einer solchen Zusammenfassung ihre praktische Wirksamkeit nehmen und liefe damit dem Ziel der Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik zuwider. Bei einer solchen Auslegung könnte eine Rückkehrentscheidung nämlich erst nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf ergehen, was zu erheblichen Verzögerungen bei der Einleitung des Rückkehrverfahrens führen und dieses Verfahren komplexer machen könnte.

[…]

52 Was speziell die in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Rückkehr und die in Art. 39 der Richtlinie 2005/85 vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen abschlägige Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz anbelangt, sind ihre Merkmale im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 45, und vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 51).

[…]

54 Wenn ein Staat entscheidet, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in ein Land abzuschieben, bei dem ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass tatsächlich die Gefahr einer Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention oder Art. 19 Abs. 2 der Charta widersprechenden Behandlung dieser Person besteht, erfordert nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 47 der Charta vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, dass der Antragsteller über einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen den Vollzug der Maßnahme verfügt, die seine Abschiebung ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 52, und vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 54).

55 Der Gerichtshof hat zwar bereits entschieden, dass es mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und mit Art. 47 der Charta grundsätzlich zu vereinbaren ist, wenn ein Rechtsbehelf, der nur gegen die abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz eingelegt wird, keine aufschiebende Wirkung hat, da der Vollzug einer solchen Entscheidung für sich genommen nicht zur Abschiebung des betreffenden Drittstaatsangehörigen führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 56).

56 Dagegen muss der Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2008/115 kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung haben, damit gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die Einhaltung der sich aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und aus Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen gewährleistet ist, da der Drittstaatsangehörige durch diese Entscheidung tatsächlich der Gefahr einer Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention oder Art. 19 Abs. 2 der Charta widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 52 und 53, sowie vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 57 und 58). Dies gilt erst recht bei einer etwaigen Abschiebungsentscheidung im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie.

57 Allerdings schreiben weder Art. 39 der Richtlinie 2005/85 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 noch Art. 47 der Charta im Licht der in Art. 18 und in Art. 19 Abs. 2 der Charta enthaltenen Garantien vor, dass es zwei Gerichtsinstanzen geben muss. Denn allein entscheidend ist, dass es einen Rechtsbehelf vor einem Gericht gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2011, Samba Diouf, C‑69/10, EU:C:2011:524, Rn. 69).

[…]

59 Aus alledem ist zu schließen, dass ein Drittstaatsangehöriger – es sei denn, ihm wurde eine Aufenthaltsberechtigung oder ein Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 erteilt – ab der erstinstanzlichen Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde illegal aufhältig im Sinne dieser Richtlinie ist, unabhängig vom Vorliegen einer Bleibeberechtigung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung. Daher kann gegen ihn grundsätzlich ab der Ablehnung seines Antrags oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Rückkehrentscheidung erlassen werden.

60 Gleichwohl ist als Zweites hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass bei jeder Rückkehrentscheidung die in Kapitel III der Richtlinie 2008/115 genannten Verfahrensgarantien und die übrigen einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des einzelstaatlichen Rechts beachtet werden. Eine solche Pflicht ist in Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie ausdrücklich für den Fall vorgesehen, dass die Rückkehrentscheidung zusammen mit der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde ergeht. Sie muss auch in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zur Anwendung kommen, in der die Rückkehrentscheidung unmittelbar nach der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in einer gesonderten behördlichen Entscheidung von einer anderen Behörde getroffen wurde.

61 In diesem Zusammenhang haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfaltet, wobei der Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren ist, so dass während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn u. a. alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen sind.

62 Insoweit genügt es nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat davon absieht, die Rückkehrentscheidung zwangsweise umzusetzen. Vielmehr müssen alle Rechtswirkungen dieser Entscheidung ausgesetzt werden, und daher darf insbesondere die in Art. 7 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Frist für die freiwillige Ausreise nicht zu laufen beginnen, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat. Zudem kann er während dieses Zeitraums nicht gemäß Art. 15 der Richtlinie für die Zwecke der Abschiebung inhaftiert werden.

63 Im Übrigen muss der Betroffene bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die erstinstanzliche Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde grundsätzlich in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9 kommen können. Ihr Art. 3 Abs. 1 macht ihre Anwendung nämlich nur davon abhängig, dass der Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben darf, und schließt folglich ihre Anwendung nicht aus, wenn sich der Betroffene, der ein solches Bleiberecht hat, im Sinne der Richtlinie 2008/115 illegal aufhält. Insoweit geht aus Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/9 hervor, dass der Betroffene seine Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Sinne dieser Richtlinie behält, solange noch nicht endgültig über seinen Antrag entschieden wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI, C‑179/11, EU:C:2012:594, Rn. 53).

64 Überdies müssen die Mitgliedstaaten, da eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat – ungeachtet dessen, ob eine Rückkehrentscheidung gleich nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung ergangen ist –, ein Bleiberecht bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung haben muss, es den Betroffenen ermöglichen, sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretenen Änderung der Umstände zu berufen, die in Anbetracht der Richtlinie 2008/115 und insbesondere ihres Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Situation haben kann.

[…]

66 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rückkehrentscheidung Herrn Gnandi, auch wenn sie vor der Entscheidung über den von ihm gegen die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz eingelegten Rechtsbehelf nicht zwangsweise vollstreckt werden kann, gleichwohl belastet, da sie ihn zum Verlassen des belgischen Hoheitsgebiets verpflichtet. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint daher die in den Rn. 61 und 62 des vorliegenden Urteils genannte Garantie, dass das Rückkehrverfahren bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf auszusetzen ist, nicht gewahrt zu sein.

67 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85 und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in den Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta verankert sind, dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, die sich gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der internationalen Schutz beantragt hat, und die gleich nach der Ablehnung dieses Antrags durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ergeht, nicht entgegensteht, sofern der betreffende Mitgliedstaat u. a. gewährleistet, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9 kommen kann und dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115 und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.

[...]