Abschiebungsverbot für einen in Bulgarien als Flüchtling anerkannten jungen alleinstehenden Mann:
1. Das nationale Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist nicht auf das verfassungsrechtlich Gebotene zu reduzieren und nur bei extremer individueller Gefahrenlage einschlägig, da hierfür kein anderer Maßstab gilt als derjenige, der durch die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK vorgegeben ist.
2. Der als Flüchtling in Bulgarien anerkannte Kläger hat dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten, insbesondere da die Situation von Schutzberechtigten nicht mit den Erfordernissen der Qualifikationsrichtlinie im Einklang steht. Systemische Mängel prägen die Vollzugspraxis Bulgariens regelhaft und in struktureller Weise.
3. Anerkannte Flüchtlinge werden Staatsangehörigen Bulgariens im Wesentlichen gleichgestellt, während subsidiär Schutzberechtigte anderen Drittstaatsangehörigen mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht gleichgestellt sind. Allerdings hat der mittellose, der bulgarischen Sprache nicht mächtige Kläger keine realistische Möglichkeit, tatsächlich in den Genuss dieser Garantien zu gelangen. Um die Inländergleichbehandlung tatsächlich zu gewährleisten, sind Integrationsprogramme erforderlich (unter Bezug auf die Rechtsprechung des VGH Hessen, entsprechend Urteil vom 04.11.2016 - 3 A 1322/16.A (ASYLMAGAZIN 1-2/2017, S. 47 ff.) - asyl.net: M24415).
4. Schutzberechtigten droht bei Rücküberstellung nach Bulgarien Obdachlosigkeit (unterBezug auf Rechtsprechung des OVG Saarland, Urteil vom 19.04.2018 - 2 A 781/17 - asyl.net: M26216 und OVG Niedersachsen, Urteil vom 29.01.2018 - 10 LB 82/17 - asyl.net: M2592).
5. Der Zugang zu Sozialhilfe und zum Arbeitsmarkt ist für Schutzberechtigte in Bulgarien äußerst erschwert, da ein Ausweisdokument vorausgesetzt wird, welches nur mit Meldeadresse, also Unterkunft beantragt werden kann.
6. Für Schutzberechtigte ist es schwierig, an medizinische Leistungen heranzukommen. Es ist nur eine Notfallversorgung gewährleistet.
7. Die aufgeführten Defizite führen regelmäßig und ernsthaft zur Gefahr der Verelendung.
(Leitsätze der Redaktion; fast gleichlautendes Urteil des OVG Schleswig-Holstein vom selben Tag zu in Bulgarien subsidiär Schutzberechtigten: 4 LB 17/17 - asyl.net: M26459)
[...]
25 a. Unter Zugrundelegung der aktuellen Auskunftslage erweist sich die in Ziffer 2 des Bescheides ausgesprochene Ausreiseaufforderung nebst Androhung der Abschiebung nach Bulgarien als rechtswidrig. [...] Nachdem dem Kläger in Bulgarien bereits internationaler Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt worden war, war der Asylantrag deshalb § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig einzustufen.
26,27 Voraussetzung für die Abschiebungsandrohung nach § 35 AsylG ist gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 AsylG u.a., dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen. Dies gilt unabhängig davon, ob das Bundesamt hierzu entsprechend § 31 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 AsylG eine ausdrückliche Feststellung getroffen hat oder nicht. Fehlt es daran, ist die Sache im Rahmen der Anfechtung der Abschiebungsandrohung vom Gericht spruchreif zu machen (BVerwG, a.a.O. Rn. 14, 16-19 und Beschl. v. 27.04.2017 - 1 B 6.17 -, juris Rn. 6; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.01.2018 - 10 LB 82/17 -, juris Rn. 25). [...]
31 Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG liegen vor. [...]
32 Die Unzulässigkeit der Abschiebung ergibt sich vorliegend aus Art. 3 EMRK. [...]
63 cc. Gemäß den vorgenannten Grundsätzen teilt der Senat nicht die Auffassung der Beklagten, dass das nationale Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf das verfassungsrechtlich zwingend Gebotene zu reduzieren sei und nur das Vorliegen einer extremen individuellen Gefahrensituation i.S.d. der Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG berücksichtigt werden dürfe. Weder der Wortlaut des § 60 Abs. 5 AufenthG noch die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung geben Veranlassung, für dieses Abschiebungsverbot einen anderen Maßstab zu entwickeln als dieser durch die einschlägige Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK vorgegeben ist.
64 dd. Nach den aktuellen, in die mündliche Verhandlung eingeführten Berichten und Auskünften zur allgemeinen Lebenssituation Schutzberechtigter in Bulgarien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger im Falle seiner Rücküberstellung und unter Berücksichtigung seiner besonderen Lage als anerkannter schutzbedürftiger Flüchtling und seiner individuellen Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die dortige Behandlung international Schutzberechtigter steht insbesondere nicht in Einklang mit den Erfordernissen der Qualifikationsrichtlinie. Die insoweit festzustellenden systemischen Mängel sind im bulgarischen Rechtssystem zwar nicht angelegt, prägen dessen Vollzugspraxis aber regelhaft und in struktureller Weise, so dass bei einer Überstellung eines Schutzberechtigten wie dem Kläger eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu befürchten steht:
65,66 Anerkannte Flüchtlinge werden bulgarischen Bürgerinnen und Bürgern im Wesentlichen gleichgestellt, während subsidiär Schutzberechtigte die gleichen Rechte haben wie Ausländer aus Drittstaaten mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht (AIDA Country Report Bulgaria [Stand 31.12.2016], S. 64; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Bulgarien [Stand 13.12.2017], im Folgenden: BFA, S. 5, 18; Auswärtiges Amt, im Folgenden: AA, Ausk. v. 18.07.2017 an OVG Lüneburg S. 11).
67,68 Daher ist für anerkannte Flüchtlinge – wie den Kläger – davon auszugehen8, dass die genannten gemeinschaftlichen Garantien in bulgarisches Recht umgesetzt sind. Es ist aber nicht ersichtlich, dass der mittellose, der bulgarischen Sprache nicht mächtige Kläger über realistische Möglichkeiten verfügen würde, tatsächlich in den Genuss dieser Garantien zu gelangen. Um ein Mindestmaß an gebotener Fürsorge sicherzustellen und dem Gebot der Inländergleichbehandlung nicht nur formalrechtlich, sondern auch faktisch gerecht zu werden, kann es in einem solchen Fall darauf ankommen, ob im Aufnahmestaat entsprechende Integrationsprogramme oder -maßnahmen existieren (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 16.11.2016 - 3 A 1292/16.A -, juris Rn. 25).
69-71 Art. 34 der Qualifikationsrichtlinie sieht insoweit vor, dass die Mitgliedstaaten den Zugang zu Integrationsprogrammen gewährleisten, die sie den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Flüchtlingsstatus oder subsidiärem Schutzstatus als angemessen erachten. Eine Verletzung dieser unionsrechtlichen Vorgabe führt zwar noch nicht zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK, zumal den Mitgliedstaaten an dieser Stelle ein weiter Beurteilungsspielraum belassen wird (so auch Thym, Rücküberstellung von anerkannten Schutzberechtigten innerhalb der EU, NVwZ 2018, 609, 613), doch wird das Maß zu fordernder Bemühungen des Weiteren davon abhängen, in welchem Maße die Schutzberechtigten von sich aus in der Lage sind, die in der Richtlinie festgelegten Rechte und Leistungen wirksam wahrzunehmen. Dabei ist ihren besonderen Bedürfnissen und speziellen Integrationsproblemen, denen sie sich – anders als Inländer – gegenübersehen, Rechnung zu tragen. [...]
72-75 (1) Ebenso wie zuvor bereits das OVG Lüneburg und das OVG des Saarlandes (Urt. v. 29.01.2018 - 10 LB 82/17 - und v. 19.04.2018 - 2 A 737/17 -, juris) kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass Schutzberechtigten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle der Rücküberstellung nach Bulgarien Obdachlosigkeit droht, weil sie in der Regel faktisch keinen Zugang zu Wohnraum haben. [...]
96,97 (2) Der Zugang zur Sozialhilfe ist aufgrund der Zulassungskriterien sowohl für Ausländer als auch für bulgarische Staatsangehörige schwierig. Für Schutzberechtigte kommt hinzu, dass sie hierfür eines Identitätsdokuments in Form einer Ausweiskarte für international Schutzberechtigte bedürfen, die wiederum nur nach gemeindlicher Adressregistrierung erteilt wird, mithin eine Unterkunft voraussetzt (AA, Ausk. v. 18.07.2017 S. 7 und Ilareva, Expertise v. 07.04.2017, S. 7 [unter Verweis auf ihre Expertise v. 27.08.2015 an VGH Mannheim], beide an OVG Lüneburg; BFA S. 19). [...]
100,101 (3) Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist für international Schutzberechtigte in Bulgarien nach wie vor äußerst erschwert. [...]
113,114 Wer sich als Schutzberechtigter bei einem Jobcenter der Agentur für Arbeit als arbeitssuchend meldet, benötigt ein Ausweisdokument, welches nur beantragt werden kann, wenn man – wie bei der Sozialhilfe – über eine Meldebestätigung verfügt, die wiederum eine Unterkunft voraussetzt Ilareva, Expertise v. 07.04.2017 an OVG Lüneburg, S. 6 [unter Verweis auf ihre Expertise v. 27.08.2015 an VGH Mannheim, S. 2]) [...]
117,118 (4) Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben das gleiche Recht auf medizinische Versorgung wie bulgarische Staatsbürger. [...]
121,122 Für Schutzberechtigte ist es aufgrund verschiedener Faktoren schwierig, an medizinische Leistungen heranzukommen. Sie sind über das Gesundheitssystem und über die verfahrensmäßigen Schritte, die sie unternehmen müssen, nicht informiert. Sie wissen etwa nicht, dass man sich bei einem Allgemeinmediziner registrieren lassen kann und dass monatliche Versicherungsbeiträge zu zahlen sind. Praktische Ärzte lassen sich selten darauf ein, Statusinhaber als Patienten aufzunehmen, u.a., weil Dolmetscher fehlen, aufgrund schwieriger verwaltungstechnischer Verfahrensweisen und nicht zuletzt aufgrund von Klischeevorstellungen in Bezug auf diese Personengruppe (UNHCR Bulgaria, AGD PA Report 2016, S. 10, vgl. auch Ilareva, Expertise v. 07.04.2017 an OVG Lüneburg, S. 10 und v. 27.08.2015 an VGH Mannheim, S. 6; Pro Asyl, Ausk. v. 17.06.2015 an VG Köln, S. 5). [...]
125,126 Aufgrund dieser verschiedenen Faktoren laufen gerade Inhaber eines Schutzstatus im Falle einer Erkrankung Gefahr, medizinisch nicht adäquat versorgt zu werden. Damit ist faktisch nur eine medizinische Notfallversorgung gewährleistet, die allerdings kostenlos ist, unabhängig vom jeweiligen Versicherungsstatus (AA, Ausk. v. 18.07.2017 an OVG Lüneburg, S. 9).
127 (5) Ob die dargestellten Mängel und Defizite im Bereich der medizinischen Versorgung für sich genommen als so gravierend zu bewerten sind, dass speziell in diesem Bereich ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedstaates festzustellen wäre, kann dahinstehen. Jedenfalls in ihrer Gesamtheit betrachtet führen die aufgeführten Defizite zu der Feststellung, dass für anerkannte Schutzberechtigte, die nach Bulgarien rücküberstellt werden, insbesondere aufgrund drohender Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und fehlender staatlicher Unterstützung regelmäßig und ernsthaft die Gefahr einer Verelendung besteht, wenn sie, wie der Kläger, nicht einzelfallbezogen auf besondere Umstände und Möglichkeiten für ihre Integration in Bulgarien zurückgreifen können.
128 Wie von der Beklagten zutreffend ausgeführt, ist die Frage, ob anerkannte Flüchtlinge bei einer Rückkehr nach Bulgarien eine Unterkunft finden, "Dreh- und Angelpunkt" bei der Beurteilung ihrer Lebensbedingungen. Dies zu prüfen fällt jedoch gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 3 (und § 31 Abs. 3 Satz 1) AsylG in die Zuständigkeit des Bundesamtes schon bei Erlass einer Abschiebungsandrohung. Denn nach den dargelegten, speziell für den Fall der Rücküberstellung in einen EU-Mitgliedstaat entwickelten Maßstäben zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gilt es, wie ausgeführt, zu klären, ob der Kläger in der Lage sein wird, elementare Grundbedürfnisse, zu denen auch das Innehaben eines Obdachs gehört, in einer noch zumutbaren Weise zu befriedigen. Zudem weist diese Frage eindeutig Bezug zu den Verhältnissen im Zielstaat auf und fällt deshalb auch nicht als sogenanntes inländisches Vollstreckungshindernis in die Zuständigkeit der Ausländerbehörde.
129,130 Um unter den für Bulgarien festzustellenden Umständen dennoch eine beachtliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK aufgrund mangelnder staatlicher Unterstützung ausschließen zu können, wären wirksame Integrationsprogramme oder -maßnahmen erforderlich. Insoweit hat der bulgarische Staat bislang allerdings nur unzureichende Anstrengungen unternommen, um die Situation anerkannter Flüchtlinge bzw. subsidiär Geschützter zu verbessern. Vielmehr scheint der für die Jahre 2014 bis 2016 in Bulgarien festgestellte Status-quo der "Null-Integration" ("zero integration") anzudauern (dazu Ilareva, Expertise v. 07.04.2017 an OVG Lüneburg, S. 2 f. m.w.N.; AIDA Country Report Bulgaria [Stand 31.12.2016], S. 63; ACCORD, Ausk. v. 14.04.2016 mit Verweis auf UNHCR und Amnesty International, S. 2). [...]
141,142 ee. Insgesamt ist festzustellen, dass die Abschiebung international Schutzberechtigter nach Bulgarien gegenwärtig regelmäßig eine sehr ernstzunehmende Möglichkeit der Verelendung wegen Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und fehlender staatlicher Unterstützung zur Folge hat, solange sie nicht im Einzelfall über ausreichende finanzielle Möglichkeiten bzw. soziale Kontakte verfügen oder auf familiäre oder nachbarschaftliche Hilfe zurückgreifen können (a.A.: OVG Magdeburg, Beschl. v. 31.12.2016 - 3 L 94/16 -, juris Rn. 12, allerdings unter Berufung auf den nicht mehr aktuellen AIDA Country Report Bulgaria mit Stand von Oktober 2015 [der hier zitierte Report mit Stand v. 31.12.2016 berichtet dergleichen nicht, s. S. 64]). [...]
144 Dass speziell der Kläger hiervon bei einer Überstellung nach Bulgarien nicht betroffen wäre, ist nicht erkennbar. Er verfügt über keine finanziellen Möglichkeiten, beherrscht die bulgarische Sprache nicht und könnte bei einer Rückführung nach Bulgarien auch nicht auf Kontakte zu Verwandten oder Freunden, auf deren Hilfen oder anderweitige Anknüpfungspunkte zurückgreifen, um zumindest auf diesem Weg die Chance zu erlangen, in Bulgarien Fuß zu fassen. Im Fall seiner Abschiebung nach Bulgarien droht ihm vielmehr gegenwärtig ganz realistisch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK, so dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen sind und sich die Abschiebungsandrohung nach gegenwärtiger Sach- und Rechtslage als rechtswidrig erweist. [...]
151 2. Die Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist ebenfalls zulässig und begründet. [...]
157 b. Die Unterlassung der Feststellung eines Abschiebungshindernisses ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Denn die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegen – wie oben unter 1.a. ausgeführt – vor. [...]