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Zitieren als:
EuGH, Beschluss vom 06.09.2017 - C-473/15 - asyl.net: M26463
https://www.asyl.net/rsdb/M26463
Leitsatz:

Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Unionsbürger, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und seinen Ursprungsmitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, von diesem Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Bürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Auslieferung, Unionsbürger, Todesstrafe,
Normen: GR-Charta Art. 19 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

19 Was die Anwendbarkeit der Charta auf eine Rechtssache wie die des Ausgangsverfahrens betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaats, einen Unionsbürger in einer Situation auszuliefern, in der dieser von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union Gebrauch gemacht hat, indem er sich vom Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, in den Anwendungsbereich der Art. 18 und 21 AEUV und somit des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 31 und 52).

20 Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass die Bestimmungen der Charta und insbesondere ihres Art. 19 auf eine solche Entscheidung Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 53).

21 Diese Erwägungen gelten auch in der vorliegenden Rechtssache, die die Möglichkeit eines österreichischen Staatsangehörigen betrifft, sich in einen anderen Mitgliedstaat als denjenigen seiner Staatsangehörigkeit zu begeben, im vorliegenden Fall die Bundesrepublik Deutschland, um dort einen Vortrag zu halten, und somit von seiner Freizügigkeit Gebrauch zu machen, ohne Gefahr zu laufen, ausgeliefert zu werden.

22 Was die Auslegung von Art. 19 Abs. 2 der Charta angeht, ist darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

23 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass ein Mitgliedstaat, der mit einem Antrag eines Drittstaats auf Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats befasst ist, prüfen muss, dass die Auslieferung die in Art. 19 der Charta verbürgten Rechte nicht beeinträchtigen wird (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 60).

24 Sofern die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im ersuchenden Drittstaat besteht, ist sie bei der Entscheidung über die Auslieferung einer Person in den Drittstaat verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, indem sie sich auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 58 und 59).

25 Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, dass die Staatsanwaltschaft für Herrn Adelsmayr in seinem Prozess in den Vereinigten Arabischen Emiraten die Todesstrafe gefordert hat. Zudem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Betroffene bloß in einem Provisorialverfahren in Abwesenheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden ist und im Fall einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach seiner Auslieferung die Todesstrafe ausgesprochen werden kann. 26 Folglich besteht für Herrn Adelsmayr im Fall der Auslieferung das "ernsthafte Risiko" der Todesstrafe im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Charta.

27 Auf die zweite Frage ist daher, soweit sie Art. 19 Abs. 2 der Charta betrifft, zu antworten, dass diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass das Auslieferungsersuchen eines Drittstaats betreffend einen Unionsbürger, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und seinen Ursprungsmitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, von diesem Mitgliedstaat abzulehnen ist, wenn für diesen Bürger im Fall der Auslieferung das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht. [...]