OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 08.02.2018 - 13 LB 45/17 - asyl.net: M26464
https://www.asyl.net/rsdb/M26464
Leitsatz:

1. Die Betätigung des nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten Ermessens erfordert eine umfassende und grundsätzlich offene Abwägung zwischen den hinter § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG stehenden öffentlichen Interessen und den privaten Interessen des Ausländers. Das Ermessen ist nicht dahin intendiert, dass im Regelfall vom Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht abgesehen werden darf.

2. Ergibt sich die Notwendigkeit einer Betätigung des Ermessens nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgrund neuer Umstände erst nach Klageerhebung, kann die Behörde eine Ermessensentscheidung auch erstmals im gerichtlichen Verfahren treffen und zur gerichtlichen Prüfung stellen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Ermessen, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Passbeschaffung, rückwirkende Erteilung, Roma, Ermessensfehler, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 3, AufenthG § 25, GG Art. 6, EMRK Art.8, VwGO § 114 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

70,71 1. Das Verwaltungsgericht geht zwar fehl in der Annahme, das nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen sei dahin intendiert, dass im Regelfall nicht vom Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen abgesehen werden dürfe, so dass regelmäßig weder eine Ermessensbetätigung noch eine Ermessensbegründung erforderlich seien. Durch den Wortlaut sowie den Sinn und den Zweck der Bestimmung in § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist das ausländerbehördliche Ermessen ersichtlich nicht vorgeprägt. Eine Betätigung dieses Ermessens ist auch nicht nur in Ausnahmefällen geboten. Durch § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist bei den dort umschriebenen Aufenthaltstiteln das Absehen von den Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG vielmehr in das nicht weiter gebundene Ermessen der Ausländerbehörde gestellt. Entsprechend dem Zweck der Norm, eine zusammenfassende Sonderregelung für die Aufnahme in das Bundesgebiet aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen zu schaffen, ist eine umfassende und grundsätzlich offene Abwägung zwischen den hinter § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG stehenden öffentlichen Interessen und den privaten Interessen des Ausländers zu treffen (so BVerwG, Beschl. v. 3.12.2014 - BVerwG 1 B 19.14 -, juris Rn. 7; Urt. v. 14.5.2013 - BVerwG 1 C 17.12 -, BVerwGE 146, 281, 293; Urt. v. 30.3.2010 - BVerwG 1 C 6.09 -, BVerwGE 136, 211, 220 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 28.4.2016 - OVG 11 B 17.14 -, juris Rn. 30 f.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 9.3.2016 - 19 CS 14.1902 -, juris Rn. 12; Senatsurt. v. 11.7.2014 - 13 LB 153/13 -, juris Rn. 57).

72 Eine diesen Anforderungen genügende Ermessensbetätigung durch den Beklagten ist ausweislich seines Bescheides vom 13. März 2014 zunächst nicht erfolgt. Hierin allein liegt aber kein Ermessensfehler, der nach § 114 Satz 1 VwGO zur Aufhebung des Bescheides und Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung führt. Denn bei Erlass des Bescheides vom 13. März 2014 bestand kein Anlass, das Ermessen nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu betätigen, da der Beklagte seinerzeit zutreffend bereits das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG verneint hatte (siehe im Einzelnen oben C.II.2.a. und b.). Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise der Klägerin im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG entstand vielmehr erst während des laufenden erstinstanzlichen Verfahrens, als ihrem Ehemann am 21. Mai 2015 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt worden war (siehe oben C.II.2.c.). Mit Blick hierauf hat der Beklagte mit seinen Schriftsätzen vom 6. Januar 2015, vom 13. März 2015 und vom 21. Dezember 2016 die erforderlich gewordene Ermessensentscheidung nachgeholt und ausgeführt, dass er sich nicht verpflichtet sehe, vom Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abzusehen. Denn die Klägerin habe nicht die ihr aufgezeigten und zumutbaren Mitwirkungshandlungen zur Beschaffung eines Passes unternommen. Das gewichtige öffentliche Interesse an der Erfüllung der Passpflicht werde daher nicht vom privaten Interesse der Klägerin an der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis überwogen. Diese nachgeholte Ermessensentscheidung genügt den Anforderungen des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG noch. Darin, dass der Beklagte bei seiner Entscheidung die besondere historische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für Angehörige der Roma als Opfer der im Zweiten Weltkrieg begangenen Völkermorde und deren Nachfahren nicht berücksichtigt hat, liegt kein nach § 114 Satz 1 VwGO relevanter Ermessensfehler. Es ist nicht ersichtlich, dass diese besondere historische Verantwortung den Zweck des nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumten Ermessens prägt oder das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Erfüllung der Passpflicht nach §§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG signifikant beeinflusst. Auch unter dem Aspekt einer aufenthaltsrechtlichen Gleichbehandlung mit den jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion ist eine Berücksichtigung bei der Betätigung des Ermessens nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht zwingend geboten (vgl. hierzu Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 17.5.2016 - 8 LA 40/16 -, juris Rn. 28; Beschl. v. 29.3.2012 - 8 LA 25/12 -, juris Rn. 12 ff.; Beschl. v. 11.1.2012 - 8 ME 142/11 -, V.n.b. Umdruck S. 6 f.).

73 Der Beklagte war auch berechtigt, das Ermessen nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erstmals im laufenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu betätigen. § 114 Satz 2 VwGO schafft zwar nur die prozessualen Voraussetzungen dafür, dass eine Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.9.2006 - BverwG 1 C 20.05 -, Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 115 m.w.N.). Der Vorschrift ist aber kein generelles Verbot zu entnehmen, eine Ermessensentscheidung erstmals im gerichtlichen Verfahren zu treffen. Erklärt das materielle Recht, wie hier (siehe oben C.I.), die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz für maßgeblich, kann die Behörde eine Ermessensentscheidung jedenfalls dann erstmals im gerichtlichen Verfahren treffen und zur gerichtlichen Prüfung stellen, wenn sich aufgrund neuer Umstände die Notwendigkeit einer Ermessensausübung erst nach Klageerhebung ergibt (so ausdrücklich und mit eingehender Begründung: BVerwG, Urt. v. 13.12.2011 - BVerwG 1 C 14.10 -, BVerwGE 141, 253, 257 ff.). So verhält es sich, wie gezeigt, hier. Die Notwendigkeit, das Ermessen des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu betätigen, entstand erst im laufenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren, nachdem dem Ehemann der Klägerin am 21. Mai 2015 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt worden und hieran anknüpfend eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise der Klägerin im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG eingetreten war (siehe oben C.II.2.c.). [...]