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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 11.01.2018 - V ZB 28/17 - asyl.net: M26465
https://www.asyl.net/rsdb/M26465
Leitsatz:

a) Das Beschwerdegericht muss den Betroffenen grundsätzlich nicht erneut anhören, wenn es den unter Anhörung des Betroffenen festgestellten Sachverhalt lediglich einem anderen der gesetzlich festgelegten Anhaltspunkte für das Vorliegen einer (erheblichen) Fluchtgefahr zuordnen will als das Amtsgericht.

b) Die beteiligten Behörden und die Haftgerichte können sich im Grundsatz auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Daten in dem Eurodac-Register verlassen und insbesondere darauf vertrauen, dass ein als offen ausgewiesenes Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist.

c) Die Vorschrift des § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG setzt eine Belehrung des Betroffenen darüber, dass er vor Abschluss des Verfahrens im Erstaufnahmestaat nicht in einen anderen Mitgliedstaat reisen darf, nicht voraus.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Fluchtgefahr, Anhörung, Belehrung, Haftgründe,
Normen: AufenthG § 2 Abs. 15 S. 1, AufenthG § 2 Abs. 14, AufenthG § 2 Abs. 15 S. 2, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

aa) (1) Die Abschiebungs- oder Rücküberstellungshaft darf zwar nicht auf einen neuen Haftgrund gestützt werden, ohne den Betroffenen hierzu erneut persönlich anzuhören (Senat, Beschlüsse vom 7. Juli 2016 - V ZB 21/16, FGPrax 2016, 278 Rn. 6 und vom 16. Februar 2017 - V ZB 10/16, juris Rn. 9). Die mit § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 AufenthG einerseits und § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG andererseits festgelegten Kriterien fächern den Haftgrund nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung aber nicht in einzelne Haftgründe auf (a.A. für § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG: Beichel/Benedetti in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl., § 62 Rn. 18), was Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung auch nicht zuließe. Beide Vorschriften legen vielmehr nur die Kriterien fest, anhand derer nach Art. 2 Buchst. n dieser Verordnung die Fluchtgefahr festgestellt werden soll. Diese wird dort nämlich als Vorliegen von Gründen im Einzelfall definiert, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte. Sowohl nach dem Wortlaut der Vorschrift ("können") als auch nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/4097, S. 32) stellt das Vorliegen eines der in § 2 Abs. 14 und 15 AufenthG geregelten Anhaltspunkte zudem lediglich ein Indiz dafür dar, dass im konkreten Fall eine Fluchtgefahr besteht. Welches Gewicht diesem Indiz zu-kommt und ob tatsächlich von einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, bedarf immer einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BT-Drucks. 18/4097 S. 32 u. 34; Senat, Beschluss vom 16. Februar 2017 V ZB 115/16, InfAuslR 2017, 253 Rn. 9). Diese obliegt gemäß § 26 FamFG auch dem Beschwerdegericht (§ 68 Abs. 3 FamFG). Weil es sich bei Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung um einen einheitlichen Haftgrund handelt, muss das Beschwerdegericht den Betroffenen grundsätzlich nicht erneut anhören, wenn es die angeordnete Sicherungshaft auf einen anderen der in § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 oder Abs. 15 Satz 2 AufenthG festgelegten Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fluchtgefahr stützen will als das Amtsgericht. Anders ist es, wenn zur Ausfüllung des Begriffs der Fluchtgefahr ein neuer Sachverhalt eingeführt wird, zu dem sich der Betroffene noch nicht persönlich äußern konnte.

(2) Dieser Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Das Beschwerdegericht ordnet den festgestellten Sachverhalt lediglich einem anderen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer erheblichen Fluchtgefahr im Sinne von Art 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung zu als das Amtsgericht. Nach seiner Meinung ergibt dieser Sachverhalt einen Anhaltspunkt für erhebliche Fluchtgefahr nicht nach § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 Nr. 1 AufenthG, sondern nach § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG. Diese abweichende rechtliche Bewertung erfordert eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen nicht. [...]

(2) Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Betroffene den Erstaufnahmestaat Spanien trotz des laufenden Verfahrens verlassen hat. Diese Feststellung findet in dem Haftantrag und den diesem beigefügten Unterlagen eine ausreichende Grundlage.

Danach hat die beteiligte Behörde bei einer Recherche im Eurodac-Register festgestellt, dass der Betroffene am 11. April 2016 in der spanischen Enklave Ceuta erkennungsdienstlich behandelt und als Asylsuchender registriert worden ist. Mangels weiterer Angaben durfte nicht nur die beteiligte Behörde, sondern auch das Amtsgericht davon ausgehen, dass das Verfahren des Betroffenen in Spanien noch nicht abgeschlossen war, als er das Land verließ. Dies ergibt sich aus der Bedeutung, die derartige Einträge im Eurodac-Register für das Funktionieren des Schengen-Systems haben. Nach dem Schengen-System obliegt die Bearbeitung von Asylanträgen dem Erstaufnahmestaat. Ob sie selbst der Erstaufnahmestaat sind, können die Mitgliedstaaten jeweils nur feststellen, indem sie im Eurodac-Register nach vorhandenen Einträgen suchen. Stoßen sie auf einen solchen Eintrag, haben sie gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung gemäß Art. 9 Abs. 5 der Verordnung 603/2013 (vom 26. Juni 2013, ABl. EU Nr. L 180 S. 1 - Eurodac-Verordnung) an den in dem Eurodac-Treffer ausgewiesenen Mitgliedstaat ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen. Dieser erhält mit dem Treffer des recherchierenden Mitgliedstaats nach Art. 9 Abs. 5 Eurodac-Verordnung automatisch eine Treffermeldung mit den recherchierten Datensätzen. Der Erstaufnahmestaat ist nach Art. 10 Eurodac-Verordnung verpflichtet, die Daten in dem Eurodac-Register zu aktualisieren und insbesondere den negativen Abschluss des Verfahrens in das Register einpflegen zu lassen. Daraus ergibt sich, dass sich die beteiligten Behörden und die Haftgerichte im Grundsatz auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Daten in dem Eurodac-Register verlassen und insbesondere darauf vertrauen können, dass ein als offen ausgewiesenes Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass das Verfahren bereits abgeschlossen war, als der Betroffene Spanien verließ, ergaben sich aus dem Haftantrag, den mit ihm vorgelegten Unterlagen und aus der Einlassung des Betroffenen nicht.

(3) Der Haftrichter musste der Frage, ob der Betroffene darüber belehrt worden ist, dass er vor Abschluss des Verfahrens im Erstaufnahmestaat nicht in einen anderen Mitgliedstaat reisen darf, nicht nachgehen. Die Vorschrift des § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG setzt eine solche Belehrung nicht voraus. [...]

(aa) Nach ihrem Tatbestand setzt die Norm, anders als § 2 Abs. 14 Nr. 1 AufenthG, eine Belehrung nicht voraus. Eine vorherige Belehrung des Betroffenen ist bei § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG im Gegensatz zu der Regelung in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Das objektive Kriterium für Fluchtgefahr im Sinne von Art. 2 Buchstabe n Dub-lin-III-Verordnung soll hier nämlich, anders als bei § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und bei § 2 Abs. 14 Nr. 1 AufenthG, nicht der nicht angezeigte Wechsel des Aufenthaltsorts unter Verletzung von ausländerrechtlichen Mitteilungspflichten sein, deren Bedeutung für die Anordnung von Abschiebungs- oder Rücküberstellungshaft dem Betroffenen zuvor klargemacht worden sein muss.

(bb) Nach § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG soll es vielmehr entscheidend auf das Fehlen oder Vorhandensein des - anhand konkreter objektiver Umstände festzustellenden - Willens des Betroffenen ankommen, den Erstaufnahmestaat in absehbarer Zeit wieder aufzusuchen. Dieser Anhaltspunkt für erhebliche Fluchtgefahr soll bei Betroffenen bestehen, die den Erstaufnahmestaat vor dem Abschluss der Prüfung seiner Zuständigkeit oder der Begründetheit des Antrags auf internationalen Schutz verlassen haben. Maßgebliches Kriterium für die Feststellung des Rückkehrwillens ist die konkrete Auffindesituation des Betroffenen (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2016 V ZB 157/15, FGPrax 2016, 140, Rn. 17 f.). Es kommt entscheidend darauf an, ob diese Situation konkrete Anhaltspunkte ergibt, aus denen auf den fehlenden Rückkehrwillen des Betroffenen geschlossen werden kann, nicht auf die Belehrung darüber, dass er den Erstaufnahmestaat ohne gültige Einreisepapiere in einen anderen Schengen-Vertragsstaat nicht verlassen darf. Der Hinweis in der Gesetzesbegründung auf die nach Art. 4 Dublin-III-Verordnung zu erteilende Belehrung ist deshalb nur eine zusätzliche Rechtfertigung für die Regelung. Sie beschreibt aber kein zusätzliches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. [...]