VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.07.2018 - 11 S 1224/18 - asyl.net: M26472
https://www.asyl.net/rsdb/M26472
Leitsatz:

1. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG setzt voraus, dass dem antragstellenden Elternteil die Personensorge für den Minderjährigen tatsächlich zusteht (Fortführung von VGH Mannheim, Beschluss vom 11.05.1993 - 11 S 714/93 -, juris) (Rn. 15).

2. Dass § 10 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Satz 3 Halbs. 1 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an einen Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, vor dessen Ausreise jenseits des Kapitels 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes nur bei Vorliegen eines strikten Rechtsanspruchs zulässt, führt - auch im Lichte der Schutzwirkungen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK- zu keinem anderen Ergebnis (Rn. 19).

3. Zur effektiven Wahrung der Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK kann es in einem solchen Fall in Betracht kommen, dem nicht personensorgeberechtigten Elternteil vorübergehend eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG zu erteilen (Rn. 28).

4. Zur Glaubhaftmachung des Duldungsanspruchs bei Berufung auf das Bestehen einer familiären Gemeinschaft (Rn. 29).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Sorgerecht, Sorgerechtsverfahren, Titelerteilungssperre, Duldung, familiäre Lebensgemeinschaft, deutsches Kind,
Normen: GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 82 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60a AufenthG,
Auszüge:

[...]

15 a) Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Dies setzt voraus, dass dem Ausländer - anders als es bei dem Antragsteller der Fall ist - die Personensorge für den Minderjährigen auch tatsächlich zusteht (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, Beschluss vom 22.04.1997 - 1 B 82.97 -, juris; ebenso bereits BVerwG, Beschluss vom 10.03.1995 - 1 B 217.94 -, juris, Rn. 3; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.05.1993 - 11 S 714/93 -, juris, Rn. 4; implizit vorausgesetzt bei Bayer. VGH, Urteil vom 26.09.2016 - 10 B 13.1318 -, juris, Rn. 31; vgl. darüber hinaus Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 28 AufenthG Rn. 25; Hailbronner, AuslR, 85. Aktualisierung (April 2014), § 28 AufenthG Rn. 11; Marx, GK-AufenthG, 89. Lieferung (Juni 2017), § 28 Rn. 98 f.; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 18. Edition, Stand: 01.05.2018, § 28 AufenthG Rn. 24; Zeitler, HTK-AuslR / § 28 AufenthG / zu Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Stand: 18.11.2016, Rn. 7); der Umfang des tatsächlich ausgeübten Umgangs kann diese Voraussetzung entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht ersetzen. Ist der ausländische Elternteil nicht personensorgeberechtigt, so ist er vielmehr auf § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu verweisen; danach kann ihm - im Wege des Ermessens - eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, falls die familiäre Gemeinschaft schon im Bundesgebiet gelebt wird (vgl. hierzu Dienelt, a.a.O., § 28 Rn. 29). Dies ergibt sich aus Folgendem:

16 Das Tatbestandselement "zur Ausübung der Personensorge" in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG greift die familienrechtliche Begriffsbildung in § 1626 Abs. 1 Satz 2 BGB auf (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 28 AufenthG Rn. 11; Marx, a.a.O., § 28 Rn. 99: Begriff der Personensorge "identisch"). Die Argumentation des Antragstellers, das Aufenthaltsrecht verwende gegenüber dem Familienrecht abweichende Begrifflichkeiten, trifft demgegenüber schon im Ansatz nicht zu. Auch sein Einwand, die "elterliche Sorge" stelle vielfach eine "leere Hülle" im Vergleich zu den Kontakten mit Personen dar, die sich tatsächlich um ein Kind kümmerten, überzeugt insoweit nicht. Dass es dem Gesetzgeber mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG - wie der Antragsteller behauptet - darum gegangen sei, dem deutschen Kind eines Ausländers - unabhängig von dessen Sorgeberechtigung - die Chance einzuräumen, mit seinen Eltern in Deutschland aufzuwachsen, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen.

17 Vielmehr ist gerade auch der im Aufenthaltsrecht verwendete Begriff der Personensorge, der nach einer vereinheitlichenden Korrektur (vgl. BT-Drs. 17/5470, S. 21: Die Terminologie des Aufenthaltsrechts knüpfe "spezifisch an die Personensorge und nicht allgemein an die elterliche Sorge" an.) nunmehr auch in § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG enthalten ist, familienrechtlich vorgeprägt. § 1626 Abs. 1 BGB enthält nämlich drei Legaldefinitionen: Nach Satz 1 haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst nach Satz 2 die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge). § 1627 Satz 1 BGB regelt weiter, wie die Eltern die elterliche Sorge "auszuüben" haben. Demnach spricht bereits der Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG dafür, dass der Gesetzgeber keinen vom Familienrecht abweichenden Begriff der Personensorge einführen wollte.

18 Hinzu kommt, dass die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige gemäß § 27 Abs. 1 AufenthG "zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes" erteilt wird. Das Tatbestandselement "zur Ausübung der Personensorge" wäre daneben überflüssig, wenn mit ihm lediglich der tatsächliche Umgang zwischen ausländischem Elternteil und deutschem Kind gemeint wäre, denn dieser ist bereits durch § 27 Abs. 1 AufenthG erfasst (vgl. zur Vorgängervorschrift im AuslG BVerwG, Beschluss vom 22.04.1997 - 1 B 82.97 -, juris, Rn. 5). Nicht (familienrechtlich) personensorgeberechtigte Elternteile wie der Antragsteller sind demgegenüber auf § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und ggfls. - soweit die familiäre Gemeinschaft noch nicht im Bundesgebiet gelebt wird - auf die Härtefallregelung nach § 28 Abs. 4 i. V. m. § 36 Abs. 2 AufenthG zu verweisen (vgl. Marx, a.a.O., § 28 Rn. 99 ff.); die - gegenüber der Vorgängervorschrift im AuslG - abweichende Regelungstechnik des AufenthG hat insoweit keine Rechtsänderungen zur Folge (vgl. Marx, a.a.O., § 28 Rn. 2 ff.). Mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG hat der Gesetzgeber demzufolge die Grundsatzentscheidung getroffen, dass ein Nachzug eines ausländischen Elternteils zu seinem deutschen Kind nur zur Wahrnehmung der Personensorge im vorgenannten Sinne, nicht hingegen zur Wahrnehmung des bloßen Umgangsrechts oder einer sonstigen - rein tatsächlichen - Beteiligung an der Betreuung des Kindes ohne Innehabung oder Übertragung des Personensorgerechts möglich sein soll (vgl. Dienelt, a.a.O., § 28 AufenthG Rn. 33; Marx, a.a.O., § 28 Rn. 99).

19 b) Auch Verfassungsrecht gebietet nicht, für die "Ausübung der Personensorge" im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG etwa schon das Bestehen einer Lebensgemeinschaft mit rein tatsächlicher Beteiligung des Ausländers an der Sorge für das Kind oder auch nur das Bemühen um die Übertragung des Personensorgerechts ausreichen zu lassen (nachfolgend (1)). Dies gilt auch bei Berücksichtigung des Umstands, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund von Ermessensvorschriften vor der Ausreise die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 1 und 3 AufenthG entgegensteht ((2)).

20 (1) Zwar ergeben sich aus Art. 6 GG - und aus Art. 8 EMRK - aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen (vgl. hierzu und zum Folgenden nur BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris, Rn. 17 ff. (m.w.N.)). Diese Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen; entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist. Auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts - unabhängig vom Sorgerecht - ist Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts sowie der damit verbundenen Elternverantwortung und steht daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Bedeutung des Umgangsrechts eines Kindes mit beiden Elternteilen, wie sie in § 1626 Abs. 3 Satz 1 und § 1684 Abs. 1 BGB zum Ausdruck kommt, wirkt sich auf die Auslegung und Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG aus (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris, Rn. 23). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Kindes und des Elternteils im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -, juris, Rn. 31; Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris, Rn. 25; Bayer. VGH, Urteil vom 26.09.2016 - 10 B 13.1318 -, juris, Rn. 32). Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris, Rn. 26). [...]

28 c) Vor diesem Hintergrund kann vorliegend allenfalls in Betracht kommen, dem Antragsteller - nach den Umständen des Einzelfalls - für die Dauer des Verfahrens zur Übertragung des Sorgerechts für seine minderjährige Tochter vor den Familiengerichten und die währenddessen stattfindenden Umgangskontakte zur effektiven Wahrung der Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 (oder auch nur Satz 3) AufenthG zu erteilen (vgl. zu dieser Vorgehensweise Bayer. VGH, Urteil vom 26.09.2016 - 10 B 13.1318 -, juris, Rn. 40; Sächs. OVG, Beschluss vom 08.03.2011 - 3 B 230/10 -, juris, Rn. 3 ff.; OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 19.05.1999 - 17 B 2737/98 -, juris, Rn. 9 ff.; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, 79. Lieferung (März 2015), § 60a Rn. 154 und 186). Ein solcher Duldungsanspruch ist aber schon deshalb nicht Gegenstand des Verfahrens - und kann damit auch der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen -, weil nicht die Antragsgegnerin, sondern das Regierungspräsidium Karlsruhe für die Erteilung einer solchen Duldung zuständig ist (vgl. § 8 Abs. 3 Nr. 1 AAZuVO); vorläufiger Rechtsschutz wäre insoweit gegen das Land Baden-Württemberg zu suchen. [...]

32 Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ein Ausländer verpflichtet, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse, sonstige erforderliche Bescheinigungen und Erlaubnisse sowie sonstige erforderliche Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich beizubringen. Die Darlegungspflicht betrifft vornehmlich all diejenigen Umstände, die der Kenntnis- und Verantwortungssphäre des betreffenden Ausländers zuzuordnen sind, also insbesondere persönliche Umstände (Funke-Kaiser, GK-AufenthG, 63. Lieferung (August 2012), § 82 Rn. 26). Kommt es für die aufenthaltsrechtliche Entscheidung auf die tatsächliche Ausübung der elterlichen Sorge oder die Wahrnehmung eines Umgangs des Ausländers an, erstreckt sich die Darlegungspflicht auch auf den Inhalt familiengerichtlicher Entscheidungen oder jugendamtlicher Stellungnahmen, die sich regelmäßig (auch dann wenn es sich um denselben Rechtsträger handelt) der Kenntnis der Ausländerbehörde entziehen (Funke-Kaiser, a.a.O., § 82 Rn. 41; Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (12. Auflage 2018), § 82 Rn. 10).

33 Dem Antragsteller müsste nach seinem Vortrag eine Vielzahl an Unterlagen vorliegen, die er nach diesen Maßstäben als präsente Beweismittel (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 2 ZPO) zur weiteren Glaubhaftmachung zu nutzen hat, bevor er auf die Vernehmung seiner minderjährigen Tochter als Zeugin verweist (vgl. allgemein zum Verhältnis von Glaubhaftmachung und Amtsermittlungsgrundsatz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Funke-Kaiser, in: Bader u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 123 Rn. 30). Zu denken ist etwa an WhatsApp-Protokolle oder insbesondere einschlägige Unterlagen - namentlich über die Umgangskontakte - aus den von ihm geführten familiengerichtlichen Verfahren. Vorgelegt hat der Antragsteller - erstinstanzlich - indes lediglich einen Beschluss des OLG ... vom 27. Dezember 2017, bei dem das Beschwerdeverfahren bezüglich des Sorgerechts anhängig ist. Danach soll ein Verfahrensbeistand Gespräche mit den Eltern und weiteren Bezugspersonen der Tochter führen und an einer einvernehmlichen Regelung der elterlichen Sorge mitwirken; ein Bericht des Verfahrensbeistands wird bis zum 18. Januar 2018 erbeten. Schon aus dem Umstand, dass um die vom Antragsteller begehrte Übertragung des Sorgerechts in zweiter Instanz gestritten wird, ergibt sich, dass diese - entgegen seiner Behauptung - keineswegs unproblematisch bevorsteht. Auch hat er weder den inzwischen überfälligen Bericht des Verfahrensbeistands im familiengerichtlichen Verfahren vorgelegt noch zum weiteren Fortgang oder dem Ergebnis des Sorgerechtsverfahrens vorgetragen. In einem etwaigen Verfahren zur Erteilung einer Duldung obläge ihm nach o.g. Maßstäben aber insoweit vorrangig die Darlegungslast. [...]