[Flüchtlingsanerkennung für Palästinenser aus Syrien:]
Staatenlosen Palästinensern aus Syrien, die von der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) registriert sind, ist in der Regel der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.
UNRWA ist bürgerkriegsbedingt derzeit nicht in der Lage, unter Berücksichtigung ihres Auftrags palästinensischen Flüchtlingen in Syrien ausreichenden Schutz und Beistand zu gewähren.
Die Gewährung subsidiären Schutzes durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge indiziert, dass Schutz und Beistand durch UNRWA aus Gründen weggefallen sind, die vom Willen des Schutzberechtigten unabhängig sind.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass das Yarmouk-Camp, das mit ca. 148.000 registrierten Flüchtlingen vor Ausbruch des Bürgerkriegs das größte palästinensische Flüchtlingslager in Syrien war, in besonderer Weise vom syrischen Bürgerkrieg betroffen war und ist. Das Lager ist im April 2015 nahezu vollständig unter die Kontrolle des IS gelangt, wobei es infolge der bewaffneten Auseinandersetzungen zu zahlreichen zivilen Opfern unter den Palästinensern kam und die überlebenden Flüchtlinge dort eingeschlossen wurden (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 31 m.w.N.). So beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das "zu einem Stadtteil mutierte Flüchtlingslager" in Yarmouk als kriegsbedingt von der Außenwelt abgeschnitten. Hierdurch sei der Zugang der Bewohner zu humanitärer Hilfe "extrem" eingeschränkt. Die Belagerung des Flüchtlingslagers und der Nachbarschaft durch sowohl das Regime als auch oppositionelle Gruppierungen führe zu schweren Unterernährungen und fehlendem Zugang zu medizinischer und humanitärer Versorgung (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Syrien vom 05.01.2017, S. 37).
Nach den Angaben der Bundesregierung vom Februar 2018 (BT-Drucks. 19/848, Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Helin Evrim Sommer, Christine Buchholz, Michael Leutert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion "Die Linke" im Deutschen Bundestag, S. 8) befinden sich in Syrien rund 56.600 palästinensische Flüchtlinge in belagerten oder schwer erreichbaren Gebieten, wozu auch Yarmouk (belagert) und die angrenzenden Bezirke (Yelda, Babilla, Beit Sahem) zählen. Die humanitäre Lage in Yarmouk wird hiernach als schlecht eingeschätzt. Die Blockade des Camps dauere inzwischen rund vier Jahre an; die letzte offizielle Hilfslieferung durch UNRWA sei im Mai 2016 erfolgt. Akute Bedarfe bestünden insbesondere in den Bereichen Nahrungsmittelversorgung, "WASH" (Wasser, Abwasser, Hygiene), Gesundheitsversorgung, Bildung und "Protection"/Schutz. Die Bundesregierung führt aus, seit 2015 ein Projekt zur Nahrungsmittelversorgung von rund 12.000 palästinensischen Flüchtlingen in Syrien in Yarmouk sowie in Yelda, Babilla und Beit Sahe zu unterstützen. Nach diesen Feststellungen geht der Senat davon aus, dass es UNRWA bedingt durch den Bürgerkrieg nicht möglich war und auf unabsehbare Zeit nicht möglich sein wird, den Schutz- und Beistandsaufgaben entsprechend den Anforderungen der Genfer Konvention gerecht zu werden.
Zwar ist es nicht die Aufgabe von UNRWA, den von ihr betreuten palästinensischen Flüchtlingen allgemeinen Schutz zu gewähren. Hierfür ist das Hilfswerk weder legitimiert noch gerüstet. Es hat daher auch nicht Einwirkungen infolge eines Krieges oder sonstige Gefahren abzuwehren (vgl. hierzu BVerwG, Urt. vom 21.01.1992, a.a.O., juris Rdnr. 21 unter Bezugnahme auf Nicolaus/Saramo, ZAR 1989, 67, 70). UNRWA kann aber seiner als Versorgungsauftrag ausgestalteten Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn es gewährleisten kann, dass der Bildungs- und der medizinische Bedarf sowie gegebenenfalls die Grundversorgung mit Nahrung und Unterkunft in einem Umfang zur Verfügung stehen, der den Grundbedarf der diese Unterstützung in Anspruch nehmenden Menschen abzudecken in der Lage ist. Hiervon ist angesichts des aufgezeigten Befundes für das Mandatsgebiet Syrien nicht auszugehen. Nach den dem Senat verfügbaren Erkenntnismaterial war es UNWRA nicht möglich, den Palästinensern im gebotenen Umfang Schutz und Beistand zu leisten und Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen. Zwar kann UNWRA aufgrund seines Netzwerkes von mehr als 4000 lokalen Mitarbeitern, einen Nothilfebetrieb in Syrien aufrechterhalten (vgl. www.unrwa.org/syria-crisis). UNWRA ist aber chronisch unterfinanziert. So belief sich der ausgewiesene akute Bedarf für Syrien etwa in 2015 auf 415.173.770 US-Dollar, wovon lediglich 54 v.H. gedeckt wurden (vgl. BT-Drucks. 18/1201 vom 20.04.2016, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion "Die Linke", S. 11).
Dass Schutz und Beistand durch UNWRA in Syrien aus Umständen weggefallen ist, die vom Willen der Klägerin unabhängig sind, wird schließlich auch durch die Tatsache indiziert, dass der Klägerin wegen der Bürgerkriegssituation in Syrien von der Beklagten die subsidiäre Schutzberechtigung zugesprochen worden ist (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urt. vom 28.06.2017 - A 11 S 664/17 -, juris Rdnr. 24; ebenso Thür. OVG, Urt. vom 05.06.2018 - 3 KO 167/18 -). Auch die Bundesregierung geht davon aus, dass ein Schutz in der Regel nicht länger besteht, wenn in einem Einsatzgebiet Krieg herrscht (vgl. BT-Drucks. 18/1201, S. 8). Es sind keine Umstände ersichtlich, die die entsprechende Indizwirkung widerlegten. Der Senat geht vielmehr auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen davon aus, dass die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien von der Bürgerkriegssituation in besonderem Maße betroffen sind. Wie auch das Schicksal der Klägerin zeigt, breitete sich der Konflikt bereits früh entlang der Siedlungsgebiete der Palästinenser in Syrien aus, wodurch diese vertrieben wurden.
Der Klägerin stand im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Syrien auch keine Möglichkeit offen, in anderen Teilen des Mandatsgebietes den Schutz von UNRWA in Anspruch zu nehmen. Insbesondere war es ihr nicht möglich, zu ihrer Familie in den Libanon zu gehen, die nach den Angaben der Klägerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dort nach wie vor in einem Flüchtlingslager lebt. Sowohl der Libanon als auch Jordanien - als zum Mandatsgebiet der UNRWA zählende Nachbarstaaten Syriens - haben ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien geschlossen, und zwar bereits vor der im September 2015 erfolgten Ausreise der Klägerin aus Syrien (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Syrien, 05.01.2017, S. 35, wonach Jordanien und Libanon ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien im Jahr 2015 geschlossen haben). Ferner ist es für syrische Palästinenser schwierig bis unmöglich, in den Nachbarländern Syriens einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen oder Dokumente zu erhalten, und sie sind dort einem erhöhten Ausbeutungsrisiko ausgesetzt (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 32 f.).
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin in einem Flüchtlingslager der UNRWA innerhalb Syriens deren Schutz hätte in Anspruch nehmen können. Die in Syrien herrschende Bürgerkriegssituation trifft insbesondere die palästinensischen Flüchtlinge, was sich u.a. darin zeigt, dass ein Großteil der Palästinenser im Laufe des Bürgerkriegs mindestens einmal innerhalb Syriens vertrieben wurde (nach Angaben der UNRWA sind ca. 400.000 von insgesamt ca. 438.000 registrierten palästinensischen Flüchtlingen in Syrien hiervon betroffen (vgl. www.unrwa.org/syria-crisis). Viele UNRWA-Einrichtungen in Syrien sind zerstört oder für die UNRWA nicht mehr zugänglich, wie z.B. 50 v.H. der Schulen (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 29). Zu zahlreichen Flüchtlingslagern besteht keine gesicherte Zugangsmöglichkeit (ebenda, S. 31), wodurch für Palästinenser der Zugang zu humanitärer Hilfe extrem eingeschränkt ist. Zahlreiche Geschäfte, Wohnhäuser und Gesundheitseinrichtungen in palästinensischen Lagern und Wohngebieten wurden durch den Konflikt zerstört oder beschädigt, was die Tätigkeit von UNRWA erheblich beeinträchtigt und es palästinensischen Flüchtlingen erschwert, Zugang zu einer Grundversorgung zu erhalten (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 5. aktualisierte Fassung, 11/2017, S. 31). Hinzu kommt, dass es nach der Auskunftslage für Palästinenser schwierig ist, sich durch Checkpoints zu bewegen und ihre Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens stark reduziert ist (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, S. 31). Auch auf diese Gegebenheiten hat die Klägerin bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hingewiesen.
Es ist ferner nicht erkennbar, dass für die Klägerin heute die Möglichkeit bestünde, in Syrien einer dem Auftrag der UNRWA entsprechenden Schutz und Beistand zu erhalten. Dafür, dass sich die Situation in Syrien grundlegend geändert haben könnte und der Klägerin eine Rückkehr nach Syrien deshalb zumutbar wäre, gibt es keine Anhaltspunkte. Zwar ist das Lager Yarmouk und die Umgebung seit Mai dieses Jahres wieder unter Kontrolle des syrischen Staates (www.n-tv.de/politik/Assad-Regime-erklaert-Damaskus-fuer-sicher-article20444321.html). Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass sich die Situation der Palästinenser dadurch nachhaltig verbessert haben könnte.
Da schließlich die Lage der Palästinenser bis heute nicht endgültig geklärt ist (vgl. VN-GV Resolution 72/80 vom 07.12.2017 - A/RES/72/80), und keine Ausschlussgründe gemäß § 3 Abs. 2 AsylG vorliegen, ist die Klägerin unmittelbar Flüchtling im Sinne der Konvention und die Beklagte muss ihr gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. [...]