VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 20.02.2018 - 8 A 4134/17 - asyl.net: M26493
https://www.asyl.net/rsdb/M26493
Leitsatz:

1. Die im Einzelfall im Raum stehende Vorverfolgung eines irakischen Jesiden aus der Provinz Dohuk durch den so genannten Islamischen Staat (IS) führt nicht (mehr) zur Anwendung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, da stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung von Verfolgungshandlungen durch den IS sprechen (hier: Grenzbereich der Provinzen Dohuk und Ninive).

2. Jesiden droht in der Region Kurdistan-Irak (Provinz Dohuk) keine Gruppenverfolgung.

3. In der Region Kurdistan-Irak findet ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt derzeit nicht statt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Dohuk, kurdisches Autonomiegebiet, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

34 (1) Soweit der Kläger vorgetragen hat, dass er sein ausschließlich von Jesiden bewohntes Heimatdorf K. in der Provinz Dohuk (Region Kurdistan-Irak) wegen Artilleriebeschusses durch den so genannten Islamischen Staat (im Folgenden: IS) im August 2014 verlassen habe, führt dies nicht dazu, dass er sich mit Erfolg auf die Beweiserleichterung berufen kann. Zwar dürfte der Kläger auf Grundlage seines Vortrags insoweit von einer Verfolgung durch den IS wegen seines jesidischen Glaubens zumindest unmittelbar bedroht gewesen sein, da der IS nach den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln im Sommer 2014 zügig in den nördlichen, an die Provinz Dohuk grenzenden Teil der Provinz Ninive vorstieß und in den eingenommenen Dörfern Jesiden hingerichtet, versklavt, misshandelt und entführt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7.2.2017 – im Folgenden: Lagebericht 2017 –, S. 12; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen, 2.2.2017; für den südlichen Teil der Provinz Dohuk daher eine Gruppenverfolgung annehmend VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris, Rn. 29; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.3.2017, 15a K 9307/16.A, juris, Rn. 55 ff.).

35 Allerdings ist die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt. Für die Widerlegung dieser Vermutung ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris, Rn. 23). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.11.2011, 10 B 32/11, juris, Rn. 7). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O.). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab etwa BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147/80, juris, Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 2.8.1983, 9 C 599/81, juris, Rn. 11).

36 Solche stichhaltigen Gründe liegen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Denn die Lage im Irak hat sich seit August 2014 insoweit grundlegend geändert, als dass der IS in der Provinz Ninive keine quasistaatliche Macht im Sinne des § 3c Nr. 2 AsylG mehr ausübt, die Grundlage der von IS-Kämpfern und -Anhängern durchgeführten großflächigen Verfolgungsmaßnahmen war. Der IS hat sein Einflussgebiet zuletzt im gesamten Irak fast vollständig verloren. Die Städte Sindschar und Ramadi wurden bereits Ende 2015 zurückerobert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2015), 18.2.2016 – im Folgenden: Lagebericht 2016 –, S. 7, 9) und stehen nunmehr unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung bzw. der ihr unterstehenden Popular Mobilisation Forces (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Republik Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 18). Die Großstadt Mossul wurde im Juli 2017 zurückerobert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O., S. 56). Die letzten irakischen Städte, die sich unter der Kontrolle des IS befunden haben – Al-Qaim, Ana und Rawa im Westen des Landes – wurden im November 2017 von den irakischen Streitkräften zurückerobert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24.8.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2017, S. 8). Allein das Wüstengebiet nördlich dieser Städte – an der Grenze der Provinzen Anbar und Ninive – war zuletzt noch unter der Kontrolle des IS. Mit den Gebietsverlusten hat der IS auch wesentliche Einnahmen, insbesondere aus Ölquellen, verloren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O., S. 47). Dass der IS angesichts dieser Entwicklung nochmals nach Norden vorstoßen und in wesentlichen Teilen des Nordiraks Fuß fassen könnte, erscheint unwahrscheinlich. Dies gilt insbesondere für ein erstmaliges Vordringen in die – hier maßgebliche – Provinz Dohuk. Zwar ist nicht zu verkennen, dass mit dem militärischen Sieg über den IS nicht sämtliche Anhänger des IS aus dem ehemaligen Herrschaftsgebiet verschwunden sind. Vielmehr ist anzunehmen, dass ein Teil dieser Gruppe in der Zivilbevölkerung untergetaucht ist (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O., S. 8). Dies dürfte daher auch nicht bedeuten, dass es von Seiten der untergetauchten IS-Kämpfer zu keinerlei Menschenrechtsverletzungen gegen einzelne Personen mehr kommen kann. Der IS dürfte sich aber künftig auf die Verübung terroristischer Anschläge konzentrieren (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2017, S. 6, 16). Dabei ist zu beachten, dass solche terroristische Anschläge nicht stets als gezielte Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer aufgefasst werden können. Oftmals stellen diese Anschläge eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung dar, welche nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, sondern bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 29.4.2014, A 4 A 104/14, juris, Rn. 32). Damit ist jedenfalls im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung davon auszugehen, dass der IS in der Herkunftsprovinz des Klägers nicht in der Lage ist bzw. in absehbarer Zukunft sein wird, Jesiden wie noch 2014 gezielt und flächendeckend zu verfolgen (ebenso für die Verfolgung von Jesiden VG Oldenburg, Urt. v. 27.2.2018, 15 A 883/17, juris, Rn. 37 ff.; VG Augsburg, Urt. v. 15.1.2018, Au 5 K 17.35594, juris, Rn. 40 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 10.10.2017, A 10 K 1508/17, juris, Rn. 29; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.10.2017, 20 K 1742.A, juris, Rn. 45 ff.; i.E. ebenso VG Hamburg, Urt. v. 12.1.2018, 8 A 3019/16, n.v., S. 14 UA; VG Ansbach, Urt. v. 15.9.2017, AN 2 K 16.30525, juris, Rn. 15; a.A. – für die Verfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive – VG Hannover, Urt. v. 31.1.2018, 6 A 2574/17, n.v., S. 10 ff. UA; VG Oldenburg, Urt. v. 23.8.2017, 3 A 3903/16, juris, Rn. 33). [...]