VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 12.07.2018 - A 12 K 8279/16 - asyl.net: M26500
https://www.asyl.net/rsdb/M26500
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen jungen Afghanen und seine Familie wegen drohender Zwangsrekrutierung durch die Taliban nach einer Festnahme aufgrund unterstellter regierungsfreundlicher Einstellung (in Kunduz). Keine inländische Fluchtalternative, da die Taliban ein landesweites Netzwerk bilden.

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, politische Verfolgung, interne Fluchtalternative, Zwangsrekrutierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[…]

Der Kläger zu 1. hat im gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von §,3 Abs. 1 AsylG. […]

Aufgrund des glaubhaften Vortrags des Klägers zu 1. und auch der Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1. im Zeitpunkt seiner Flucht durch die bevorstehende Zwangsrekrutierung unmittelbar von einer menschenrechtswidriger Behandlung durch die Taliban bedroht war, weshalb ihm die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie zugutekommt, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan erneut dieser Gefahr ausgesetzt wäre. Diese unmittelbar drohende Verfolgung knüpfte auch an die - jedenfalls seitens der Taliban zugeschriebene - politische Überzeugung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 5 AsylG des Klägers zu 1. an. […]

Für die Glaubhaftigkeit des Vortrags der Kläger spricht, dass auch EASO berichtet, dass die Taliban im Sommer 2015 eine erhöhte Rekrutierungsaktivität in der Provinz Kunduz, auch im Bezirk Imam Saheb, entwickelt haben (vgl. EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan Recruitment by armed groups, September 2016, S. 27). Die Situation in Imam Saheb wurde schon im Oktober 2014 als sehr instabil eingeschätzt, im September 2015 wurde die Stadt Kunduz von den Taliban eingenommen (vgl. EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan Security Situation, Januar 2016, S. 121 ff.). Insgesamt sollen die Taliban im Jahr 2015 einen großen Einfluss in der Provinz Kunduz gehabt haben (vgl. EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan Security Situation, a.a.O., S. 124).

b) Es steht daher zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger von den Taliban zwangsrekrutiert werden sollte und er dies nur noch durch seine Flucht abwenden konnte. Die Bedrohung hatte sich vor der Ausreise schon so weit verdichtet, dass der Kläger ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Erfolgseintritt rechnen musste. […]

Die unmittelbar drohende Verfolgung, durch die Taliban knüpfte zumindest nach deren Angaben an die angebliche regierungsnahe politische Überzeugung der Familie des Klägers zu 1 und damit an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal i.S.d. §§ 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG an. Die Taliban sind nichtstaatliche Akteure im Sinn des § 3c Nr. 3 AsylG und der afghanische Staat wie auch die sonstigen in § 3d AsylG genannten Schutzakteure sind nicht in der Lage, den Kläger vor weiterer Verfolgung durch diese zu schützen. Denn nach § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG ist ein Schutz vor Verfolgung generell dann gewährleistet, wenn die Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um Verfolgung zu verhindern, u.a. etwa durch Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen. Dies ist in Afghanistan allerdings nicht gesichert. Denn infolge der sich im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung von den ISAF-Truppen an die afghanischen Sicherheitskräfte verschlechternden Sicherheitslage in allen Regionen Afghanistans bei gleichzeitigem Erstarken der regierungsfeindlichen Kräfte konnte der Kläger keinen wirksamen Schutz von staatlichen Sicherheitskräften oder internationalen Organisationen erhalten und wird dies auch im Falle einer Rückkehr nicht können (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil v. 16.10.2017 - A 11 S 512/17 juris Rn. 63 ff.).

Dem Kläger steht auch kein interner Schutz nach § 3e AsylG vor der im Fall einer Rückkehr zu erwartenden weiteren Verfolgung zur Verfügung. Es kann von ihm vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich in der Stadt Kabul oder anderswo in Afghanistan niederlässt. Die Verfolgungsfurcht des Klägers besteht nach dem festgestellten Sachverhalt landesweit. […]