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VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 03.08.2018 - 5 K 1385/16 - asyl.net: M26523
https://www.asyl.net/rsdb/M26523
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen afghanischen Mann mit psychischer Erkrankung:

1. Die Behandlung einer psychischen Erkrankung in Form einer Angststörung mit Panikattacken, depressiven Episoden, einer Somatisierungsstörung sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung ist derzeit in Afghanistan nicht in ausreichendem Umfang möglich. Daher ist im vorliegenden Fall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen.

2. Dem Kläger ist es in Hinblick auf seine Erkrankung nicht möglich, bei einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, psychische Erkrankung, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Posttraumatische Belastungsstörung, Abschiebungsverbot, Depression,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]
Der Kläger hat im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG (I.). [...]

2. In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Kläger ein individuelles Schicksal, das seine Verfolgungsgefährdung belegt, nicht glaubhaft gemacht. Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht davon überzeugt, dass der Vortrag des Klägers jedenfalls im Kern der Wahrheit entspricht und er von einem selbst erlebten Geschehen berichtet hat. [...]

II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung unionsrechtlichen subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. [...]

III. Dem Kläger steht allerdings ein (nationales) Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. [...]

Aus dem fachärztlichen Attest der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. ..., Saarbrücken, vom .2018 ergibt sich, dass der Kläger sich seit dem … 2017 in ihrer kontinuierlichen psychiatrischen Behandlung befindet und an einer Angststörung mit Panikattacken, einer depressiven Episode (zeitweilig mittel, oft auch schwer), einer Somatisierungsstörung sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. [...]

Auf Grund der mehrfach diagnostizierten gravierenden psychischen Erkrankung des Klägers, die offenbar auch zumindest latente suizidale Tendenzen aufweist, sieht das Gericht eine konkrete Gefahr für Leib und Leben des Klägers bei einer Rückkehr nach Afghanistan. Insoweit ist maßgeblich, dass eine ausreichende Behandlung dieser Erkrankung nach Überzeugung des Gerichts in Afghanistan im Hinblick auf die dort bestehenden Mängel im Gesundheitswesen und das Erfordernis, über finanzielle Mittel zu verfügen, nicht gewährleistet ist. Die medizinische Versorgung in Afghanistan stellt sich auf Grund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte sowie einer schlechten baulichen und medizinischen Infrastruktur als unzureichend dar. Selbst in Kabul, wo es mehr Krankenhäuser als im übrigen Land gibt, ist für die Bevölkerung noch keine hinreichende medizinische Versorgung gewährleistet. Zwar ist das staatliche Gesundheitssystem laut Verfassung kostenfrei, de facto werden aber Patienten für aufwändigere Behandlungen regelmäßig an teure Privatpraxen verwiesen und müssen Medikamente in aller Regel selbst beschafft werden; die Qualität der Behandlung ist stark einkommensabhängig. Hinzu kommt, dass aufgrund mehrerer Sicherheitsvorfälle zahlreiche medizinische Einrichtungen zumindest vorübergehend geschlossen werden mussten und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes aktuell einen erheblichen Teil seines Personals im Land abgezogen hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.05.2018).

Insbesondere ist die Behandlung von psychischen Erkrankungen in Afghanistan nur unzureichend möglich. Es gibt nur in einigen größeren Städten wenige Kliniken, die zudem klein und überfüllt sind (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012 und vom 04.06.2013; Information von D-A-CH Kooperation Deutschland-Österreich-Schweiz "Afghanistan" vom 09.12.2013, S. 53 ff. (55)). Eine Behandlung von psychischen Erkrankungen findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012, vom 04.06.2013, vom 31.03.2014 und vom 31.05.2018). Für Kabul wurde in der Vergangenheit berichtet, dass es lediglich zwei psychiatrische Einrichtungen geben soll, und zwar das Mental Health Hospital mit 100 Betten und die Universitätsklinik Aliabad mit 48 Betten (vgl. auch Urteile der Kammer vom 12.06.2018 - 5 K 2579/16 -, vom 08.02.2017 - 5 K 830/16 -, vom 30.11.2016 - 5 K 2041/15 - und vom 04.02.2016 - 5 K 65/15). Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 31.05.2018 wird für die knapp vier Millionen Einwohner zählende Stadt Kabul von lediglich einer staatlichen Klinik mit 14 Betten zur stationären Behandlung berichtet. In Jalalabad und Herat soll es jeweils 15 Betten für psychiatrische Fälle geben. Diese Anzahl von Behandlungsplätzen reicht jedoch kaum aus, um selbst in Kabul eine ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten. Ansonsten wird noch für Mazar-e Sharif von einer privaten Einrichtung berichtet, die psychiatrische Fälle stationär aufnimmt. Folgebehandlungen sind oft schwierig zu leisten, insbesondere wenn der Patient kein unterstützendes Familienumfeld hat. Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt", oder es wird ihnen in einer "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt zwar aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben. So finanziert die Bundesregierung Projekte zur Verbesserung der Möglichkeiten psychiatrischer Behandlung und psychologischer Begleitung in Afghanistan (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 06.11.2015 und vom 19.10.2016). Psychische Erkrankungen sind jedoch in Afghanistan hoch stigmatisiert, obwohl Schätzungen zufolge 50 % der Bevölkerung psychische Symptome wie Depression, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen zeigen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31.05.2018).

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss daher davon ausgegangen werden, dass eine Behandlung der psychischen Erkrankung des Klägers in Afghanistan nicht in ausreichendem Umfang möglich ist und sich damit sein Zustand weiter verschlechtern würde und eine akute Gefahr für Leib und Leben besteht. Denn auf Grund der diagnostizierten Erkrankungen und fehlender Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan ist gerade bei einer Rückkehr von einer akuten Suizidgefahr auszugehen. Aus den vorgelegten Attesten ergibt sich, dass bei diesem eine latente Suizidalität vorliegt.

Zudem muss auf Grund der in Afghanistan herrschenden wirtschaftlichen Situation davon ausgegangen werden, dass es für den Kläger im Hinblick auf seine Erkrankung nicht möglich sein wird, bei einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt sicherzustellen, so dass auf Grund von Mangelernährung alsbald mit einer Gefahr für Leib und Leben zu rechnen ist. [...]

Zwar it nach der Rechtsprechung der Kammer (vgl. Urteile vom 12.06.2018 - 5 K 2579/16 -, vom 08.02.2017 - 5 K 2041/15 - und vom 04.02.2016 - 5 K 65/15) auf Grund der vorliegenden Auskünfte auch davon auszugehen, dass für alleinstehende Rückkehrer nach Afghanistan grundsätzlich ausreichende Möglichkeiten bestehen, das Überleben zu sichern. [...]

Dies gilt jedoch nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer nicht für Fälle, in denen der Betroffene selbst auf medizinische Betreuung angewiesen und deshalb nicht in der Lage ist, sein Überleben durch Arbeit zu sichern (vgl. nur Urteil der Kammer vom 04.02.2016 - 5 K 65/15). Es ist davon auszugehen, dass das aufgrund seiner Erkrankung auch auf den Kläger zutrifft (vgl. nur Urteil der Kammer vom 03.05.2018 - 5 K 2713/16). [...]