LG Traunstein

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Zitieren als:
LG Traunstein, Beschluss vom 06.09.2018 - 4 T 2328/18 - asyl.net: M26530
https://www.asyl.net/rsdb/M26530
Leitsatz:

Keine Abschiebungshaft für Minderjährige in der Abschiebehafteinrichtung Eichstätt:

1. Bei der Unterbringung Minderjähriger in Abschiebehafteinrichtungen sind alterstypische Belange zu berücksichtigen; die Abschiebehafteinrichtung Eichstätt in Bayern wird diesen Belangen nicht gerecht.

2. Bei Zweifeln über die Minderjährigkeit der Betroffenen sind hohe Anforderungen an den Amtsermittlungsgrundsatz gem. § 26 FamFG zu stellen und im Zweifel zugunsten des Betroffenen zu entscheiden (unter Bezug auf: BGH, Beschluss vom 29.09.2010 - V ZB 233/10 - asyl.net: M17973).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, minderjährig, Altersfeststellung, Abschiebehaft, Abschiebungshafteinrichtung, Abschiebehafteinrichtung, Amtsermittlung, Amtsermittlungsgrundsatz, Identitätsfeststellung, Kindeswohl, alterstypische Belange, Eichstätt, Haftbedingungen,
Normen: AufenthG § 62a, AufenthG § 62a Abs. 3, RL 2008/115/EG Art. 17, FamFG § 26,
Auszüge:

[...]

Bei minderjährigen Abschiebungsgefangenen sind nach § 62a Abs. 3 AufenthG unter Beachtung der Maßgaben der in Art. 17 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98) alterstypische Belange zu berücksichtigen. In Haft genommene Minderjährige müssen die Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und, je nach Dauer ihres Aufenthalts, Zugang zur Bildung erhalten (Art. 17 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie). Unbegleitete Minderjährige müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind (Art. 17 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie). Insgesamt ist dem Wohl des Kindes im Zusammenhang mit der Abschiebehaft bei Minderjährigen Vorrang einzuräumen (Art. 17 Abs. 5 der Rückführungsrichtlinie). Den o.g. Bedürfnissen Jugendlicher wird die Abschiebehafteinrichtung Eichstätt jedoch nicht gerecht.

Bei Zweifeln über die Minderjährigkeit des Betroffenen sind hohe Anforderungen an die Ausfüllung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 26 FamFG) zu stellen, und im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen zu entscheiden (vgl. BGH vom 29.09.2010, V ZB 233/10, NvwZ 2011, 320; BGH vom 10.08.2018 - V ZB 123/18 m.w.N.).

Solche Zweifel bestehen hier. [...]

Das Jugendamt hat letztlich ausschließlich aufgrund des eigenen Eindrucks und ohne stichhaltige weitere Belege entschieden.

Maßnahmen zu Identitätsfeststellungen in Form einer ausführlichen ärztlichen Untersuchung durch einen erfahrenen Rechtsmediziner (§ 49 Abs. 3, 6 AufenthG) kommen zum jetzige Zeitpunkt nach Auffassung der Kammer nicht in Betracht. Der Betroffene befindet sich bereits knapp drei Wochen in Haft. Eine weitere Verzögerung der Entscheidung, die nach Einschätzung der Kammer mindestens zwei Wochen betragen und den angeordneten Haftzeitraum überschreiten dürfte, wäre nicht mehr verhältnismäßig.

Eine Aufklärung der Frage der Minderjährigkeit des Betroffenen ist voraussichtlich vom Ergebnis der Vorführung bei den afghanischen Behörden zu erwarten. Dieses Ergebnis wird voraussichtlich noch einige Wochen dauern, so dass dieses nicht abgewartet werden kann. [...]