VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 13.08.2018 - 8 A 300/18 HAL - asyl.net: M26538
https://www.asyl.net/rsdb/M26538
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Syrer, der bei Ausreise noch im wehrpflichtigen Alter war: 

1. War der Kläger zum Zeitpunkt der Ausreise mit 40 Jahren noch im wehrpflichtigen Alter, so droht bei Wiedereinreise nach Syrien Verfolgung. Insoweit kommt es für die Bestimmung des relevanten Alters auf den Zeitpunkt der Ausreise an.

2. Die strafrechtlichen Regelungen bezüglich Wehrdienstentziehung und Desertion dienen nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und Ahndung kriminellen Unrechts, sondern sollen eine vermutete staatsfeindliche Gesinnung treffen und diese eliminieren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Wehrdienstentziehung, politische Verfolgung, Militärdienst, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, Verfolgungsgrund, Alter, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]
Der Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 2016 ist in Nr. 2. hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt den Kläger m seinen Rechten, denn er hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). […]

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist dem 1975 geborenen Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Denn ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") eine asylerhebliche Verfolgung durch den syrischen Staat. Er ist bei einer Rückkehr konkret bedroht von Strafverfolgung oder Bestrafung durch den syrischen Staat wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, der u.a. Kriegsverbrechen umfasst, und dies aus Gründen (unterstellter) staatsfeindlicher Einstellung, somit aus politischen Gründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. […]

Männer, die mindestens 18 Jahre alt sind und jedenfalls das 42. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, dürfen bereits seit März 2012 nur mit einer offiziellen Beglaubigung des Militärs, mit der bescheinigt wird, dass sie vom Militärdienst freigestellt sind, das Land verlassen; seit Herbst 2014 besteht darüber hinaus für Männer, die zwischen 1985 und 1991 geboren sind, ein generelles Ausreiseverbot (vgl. SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse am 12. März 2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28. März 2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30. Juli 2014; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft an OVG Schleswig vom 08. November 2016).

Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet (zum folgenden AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 2. Januar 2017; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 2. März 2016; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30. Juli 2014). Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor oder fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft, bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die ohne Beglaubigung der Armee erfolgte und mithin illegale Ausreise wird als Wehrdienstentzug geahndet (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 2. Januar 2017).

Der im Jahr 1975 geborene Kläger war im Zeitpunkt seiner Ausreise mit 40 Jahren noch im wehrpflichtigen Alter. Einer möglichen Einziehung zum Militärdienst hat sich der Kläger aber durch seine Ausreise aus Syrien entzogen, so dass ihm bei einer Wiedereinreise nach Syrien Verfolgung droht. Der Kläger hat vorgetragen, er habe Angst, im Fall seiner Rückkehr als Reservist in der Armee dienen zu müssen und er fürchte, wegen des unerlaubten Verlassens Syriens aufgrund der Entziehung vom Reservistendienst bestraft zu werden. Das Gericht hat keinen Anhalt, an den Angaben des Klägers zu zweifeln. Dass er seinen Pflichtwehrdienst tatsächlich abgeleistete und als Reservist geführt ist, hat er durch die Vorlage eines Militärbüchleins im Klageverfahren glaubhaft gemacht. Der Vortrag wird im Übrigen durch die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse (s.o.) gedeckt. […]

Darüber hinaus stellt sich die dem Kläger drohende Strafe wegen des Entzuges vom Wehrdienst als Bestrafung wegen einer vermeintlichen oder tatsächlichen politischen Gesinnung im Sinne des § 3b Abs. 2 Nr. 5 AsylG dar. Zwar rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund und wendet auch die strafrechtlichen Regelungen bezüglich Wehrdienstentziehung und Desertion offenbar mehr oder weniger unterschiedslos auf alle syrischen Wehrpflichtigen an, so dass nicht bereits im Hinblick auf eine insoweit durchgängig diskriminierende Praxis ein Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG vorliegt (darauf verweisend OVG Koblenz, Urteil vom 16. Dezember 2015 -1 A 10922/16 -, juris). Dies schließt die Annahme politischer Verfolgung jedoch ebenso wenig aus wie der Umstand, dass allem Personen,·die sich der Wehrpflicht entziehen, in Syrien von Rechts wegen Verfolgung deshalb droht, weil sie mit der Dienstverweigerung eine Straftat begangen haben. […]

Gerade im Falle von Syrien gibt es gegenwärtig gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme, die drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentzugs oder Desertion diene nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts, sondern solle (auch) eine aufgrund des Wehrdienstentzugs vermutete staatsfeindliche Gesinnung treffen und diese eliminieren, sei somit politisch motiviert. Diese Annahme liegt bereits aufgrund der besonderen Konstellation in Syrien nahe. Denn es handelt sich bei Syrien um ein diktatorisches System, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft (darauf verweisend etwa VGH Mannheim, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, juris). Wer sich trotz des bekannt großen Personalbedarfs in der syrischen Armee seiner Wehrpflicht – zumal durch eine illegale Flucht ins Ausland - entzieht, manifestiert damit nach außen sichtbar seine Illoyalität gegenüber dem syrischen Staat in besonderer Weise. Entsprechend hart geht der syrische Staat mit Deserteuren und Männern, die sich dem Wehrdienst entziehen, um: So drohen denjenigen, die sich Einberufung oder Mobilisierung entziehen, bei einer Ergreifung Untersuchungen und Festnahmen teilweise mit längerer Haft und Folter (SFH, Syrien Mobilisierung in die syrische Armee, 28: März 2015; Danish Refugee Council, Syria, 09/2015; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft an OVG Schleswig vom 8. November 2016). Einige Quellen sprechen im Zusammenhang mit Desertion von lebenslanger Haft und Exekutionen (AA, Auskunft an VG Düsseldorf vom 2. Januar 2017; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30. Juli 2014; Danish Refugee Council, Syria, 09/2015). Ferner gibt es Berichte von Personen, die als Rückkehrer im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst befragt und dauerhaft verschwunden sind (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 2. März 2016; darauf verweisend auch etwa VGH München, Urteile vom 12. Dezember 2016 - 21 B 16.30372 juris Rdnr. 6). Auch diejenigen, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird, werden als Gegner des Regimes betrachtet und haben gewaltsames Verschwinden, Haft und Folter zu gewärtigen (Amnesty International, Between prison and the grave, 11/2015). [...]