Einstweilige Anordnung auf Zahlung von ergänzenden Sozialleistungen nach SGB II an eine Unionsbürgerin:
1. Solange die Verlustfeststellung nicht bestandskräftig ist, gilt weiterhin das Freizügigkeitsrecht. Der gewöhnliche Aufenthalt im Inland wird nicht dadurch beendet, dass die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat, wenn der Bescheid noch nicht bestandskräftig ist und die sofortige Vollziehung nicht angeordnet wurde. Der Anspruch auf Sozialleistungen besteht in diesem Fall weiterhin.
2. Die Arbeitnehmereigenschaft ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil für das Beschäftigungsverhältnis keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Denn auch ein Einkommen aus Scheinselbständigkeit, für das keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden, kann die Arbeitnehmereigenschaft begründen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Aufenthalt ist solange zukunftsoffen, wie nicht bestandskräftig oder durch eine für sofort vollziehbar erklärte Entscheidung der Ausländerbehörde festgestellt worden ist, dass ein Aufenthaltsrecht der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr besteht oder die Antragsteller freiwillig beabsichtigen auszureisen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4. Februar 2015 - L 2 AS 14/15 B ER -; zum fehlenden gewöhnlichen Aufenthalt bei Anordnung des Sofortvollzuges der Verlustfeststellung vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. Oktober 2017 - L 19 AS 1761/17 B ER -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017 - L 15 AS 62/17 B ER -). Vorliegend hat die zuständige Ausländerbehörde zwar mit Verfügungen vom 31. August 2017 gegenüber den Antragstellern Verlustfeststellungen getroffen, den Sofortvollzug aber nicht angeordnet. Die Antragsteller haben sich dagegen mit Klage zum Verwaltungsgericht Darmstadt gewandt, über die bisher noch nicht entschieden wurde. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragsteller in absehbarer Zeit die Bundesrepublik Deutschland wieder verlassen wollen. Die Antragsteller verfügen somit gegenwärtig über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet.
Ein Leistungsanspruch der Antragsteller folgt bereits aus dem langjährigen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II erhalten abweichend von Satz 2 Nr. 2 Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II liegen nach der summarischen Prüfung im Eilverfahren vor, da beide Antragsteller mindestens seit dem 16. August 2012 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, ohne dass Anhaltspunkte für längere Abwesenheitszeiten und für Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht bestanden hat (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II), erkennbar sind. Die Rückausnahme dieser Regelung (§ 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II) greift vorliegend nicht ein. Die Ausländerbehörde des Beigeladenen hat zwar mit Verfügungen vom 31. August 2017 den Verlust des Rechts der Antragsteller auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt. Die Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde und die Begründung der Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU hat aber, solange der Bescheid nicht bestandskräftig ist und auch nicht für sofort vollziehbar erklärt worden ist, keine Auswirkungen auf den bereits bestehenden Anspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II. Denn die Klage gegen die Verlustfeststellung der Ausländerbehörde des Beigeladenen entfaltet aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung hemmt nicht das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, sondern nur die Vollziehung im Sinne eines Verwirklichungs- und Ausnutzungsverbots (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 86a Rn. 5 m.w.N.). Der Anspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II ist daher, ohne dass durch die Sozialgerichte zu prüfen ist, ob der Aufenthalt rechtmäßig gewesen oder die Verlustfeststellung rechtmäßig erfolgt ist, solange nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II ausgeschlossen, bis das ausländerrechtliche und verwaltungsgerichtliche Verfahren abgeschlossen und bestands- oder rechtskräftig der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt ist (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 20. März 2018 - L 3 AS 73/18 B ER -). [...]
Die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 1. ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners auch nicht deshalb zu verneinen, weil für das Beschäftigungsverhältnis der Antragstellerin zu 1. bisher keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Der Senat hat zwar ein Freizügigkeitsrecht für eine als "Schwarzarbeit" ausgeübte Arbeitnehmertätigkeit verneint (Beschluss vom 13. September 2007 - L 9 AS 44/07 ER - FEVS 59, 110; ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. April 2015 - L 2 AS 2388/14 B ER -). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. wird zwar unzutreffend als selbständige Tätigkeit deklariert mit der Folge, dass Sozialversicherungsbeiträge bisher nicht entrichtet wurden. Die Antragstellerin zu 1. hat für ihre Tätigkeit Rechnungen gestellt und ihre Einnahmen auch gegenüber dem Finanzamt angegeben. Die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen ist im Übrigen Sache des Arbeitgebers. Der Senat hat keine Hinweise für ein kollusives Zusammenwirken zwischen der Antragstellerin zu 1. und der Zeugin K. hinsichtlich der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen. [...]