OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 24.05.2018 - 1 Bf 72/17.Z - asyl.net: M26581
https://www.asyl.net/rsdb/M26581
Leitsatz:

1. Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fordert, dass der betroffene Ausländer zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war. § 55 Abs. 1 AufenthG ist eine abschließende Regelung [vgl. hierzu ausführlicher VG Göttingen, Beschluss vom 25.07.2016 - 1 B 105/16 - asyl.net: M24230)

2. Die Entscheidung über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots steht nach § 11 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (Anschluss an BVerwG, Urt. v. 22.2.2017, 1 C 27.16, BVerwGE 157, 356).

3. Die Bezeichnung eines Ausländers als faktischer Inländer, die u.a. für im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene ausländische Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten, sowie für im Bundesgebiet geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer verwendet wird, entbindet nicht von der Prüfung der Voraussetzungen eines auf Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK gestützten Abschiebungshindernisses, insbesondere nicht vom Vorliegen der notwendigen Verwurzelung im Bundesgebiet.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bleibeinteresse, faktischer Inländer, Verwurzelung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Befristung, Ausweisung, Straftat, Berufungszulassungsantrag, Prognose,
Normen: GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 11 Abs. 3, AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Wie das Verwaltungsgericht zu Recht und vom Kläger insoweit unangegriffen festgestellt hat, ist § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht einschlägig, weil der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisung nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 27.4.2017, 1 Bf 4/17.Z, n. v.). § 55 Abs. 1 AufenthG ist, anders als der Kläger meint, im Gegensatz zu § 55 Abs. 2 AufenthG, eine abschließende Regelung (Cziersky-Reis in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 55 AufenthG Rn. 1). Vor diesem Hintergrund geht auch das übrige Vorbringen des Klägers zur Interessenabwägung ins Leere. [...]

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass es sich bei der Entscheidung der Beklagten über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG um eine in das Ermessen der Beklagten gestellte Entscheidung handelt. Der Senat hat sich bereits der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 22.2.2017, 1 C 27.16, BVerwGE 157, 356, juris) angeschlossen (OVG Hamburg, Beschl. v. 27.4.2017, 1 Bf 4/17.Z n. v.). Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht die Befristungsentscheidung, wie der Kläger zu Recht feststellt, "lediglich formal hinsichtlich der Ermessensausübung" prüft, nämlich im Rahmen der eingeschränkten Prüfungskompetenz gemäß § 114 Satz 1 VwGO. [...]

Der Verweis auf eine "faktische Inländerschaft" des Klägers reicht nicht aus. Das gilt schon deswegen, weil der Begriff "faktischer Inländer" nicht einheitlich definiert ist. Der Begriff wird in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben. Das Bundesverwaltungsgericht definiert in einer Entscheidung faktische Inländer als "im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten" (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.7.2002, 1 C 8/02, BVerwGE 116, 378, juris Rn. 23). Das Bundesverfassungsgericht umschreibt den Begriff mit "hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer" (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016, 2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 19). Die Bezeichnung eines Ausländers als faktischer Inländer entbindet bei der Beurteilung eines auf Artikel 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK gestützten Abschiebungshindernisses jedenfalls nicht davon, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen. Demgemäß führt das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung aus, eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes komme etwa bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden seien und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug hätten, nicht zuzumuten sei (BVerwG, Urt. v. 29.9.1998, 1 C 8/96, InfAuslR 1999, 54, juris Rn. 30 unter Hinweis auf EGMR, Urt. v. 26.3.1992, EuGRZ 1993, 556 und EGMR, Urt. v. 26.9.1997, InfAuslR 1997, 430). Dementsprechendes hat der Kläger nicht dargelegt; er hat sich auch nicht mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu den Bleibeinteressen des Klägers und zur mangelnden Entwurzelung auseinandergesetzt.

Der Verweis des Klägers auf seine "faktische Inländerschaft" reicht auch deswegen nicht aus, weil für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot besteht (BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016, 2 BvR 1943/16, InfAuslR 2017, 8, juris Rn. 19; vgl. zu einer Abschiebungsanordnung gegenüber einem faktischen Inländer BVerwG, Urt. v. 22.8.2017, 1 A 3/17, InfAuslR 2018, 11, juris Rn. 41). [...]