VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 26.09.2018 - 2 A 337/14 - asyl.net: M26607
https://www.asyl.net/rsdb/M26607
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot für einen psychisch erkrankten Mann aus Armenien:

1. Die medikamentöse Behandlung einer PTBS ist zwar in Armenien auf dem Papier kostenlos, allerdings müssen Patientinnen und Patienten mit Zuzahlungen in unbekannter Höhe rechnen.

2. Einige Medikamente für die Behandlung psychischer Erkrankungen (hier: andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung und rezivierenden depressiven Störung) sind in Armenien überhaupt nicht kostenlos erhältlich; daher erscheint in solchen Fällen die erforderliche medizinische Versorgung nicht gewährleistet, wenn es der betroffenen Person aufgrund ihrer wirtschaftlichen und persönlichen Lage nicht möglich ist, die Kosten zu tragen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Armenien, Posttraumatische Belastungsstörung, Behandlungskosten, medizinische Versorgung, Suizidgefahr, Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Medikamente,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[…]

Die Beklagte ist verpflichtet festzustellen, dass der Abschiebung des Klägers nach Armenien im Hinblick auf seine gesundheitliche Situation ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegensteht. […]

Nach diesen rechtlichen Vorgaben liegt im Fall des Klägers im Hinblick auf den Staat Armenien ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Denn er leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F43.1) mit Komorbiditäten und es besteht die konkrete Gefahr, dass sich diese psychische Krankheit in Armenien verschlechtert, weil die Behandlungsmöglichkeiten unzureichend sind und ihm im Falle der Abschiebung eine konkrete Lebensgefahr droht. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts auf Grund der im Tatbestand zitierten ärztlichen Atteste fest, die der Kläger nach der zunächst ablehnenden Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorgelegt hat. [...]

Die Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung und einer rezidivierenden depressiven Störung seien nach einem strukturierten klinischen Interview (SKID I), den Kriterien des DSM-5 (Stellungnahme vom … 2014) sowie lCD-10 (Stellungnahme vom … 2018) gestellt worden. Der Kläger habe ein traumatisierendes Ereignis erlebt, indem er als Kleinkind in Aserbaidschan während der Austreibung des armenischen Volkes gesehen habe, wie Menschen getötet worden seien. 2014 habe er in der Region Lugansk in der Ukraine Bombenanschläge bzw. einen Beschuss der Ortschaft, in der er damals gelebt habe, bei einem Vormarsch von Soldaten und Panzern erlebt (Stellungnahme vom … 2014, Entlassungsbrief vom … 2014, Stellungnahme vom … 2018). Das psychologisch-traumatologische Gutachten vom … 2015 bestätigt auf Grundlage ähnlich beschriebener Ereignisse und eines diagnostischen Gesprächs, eines strukturierten klinischen Interviews DSM-IV für PTBS (SKID-PTBS) und des Beck-Depressions-Inventars (BDI) die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung und der (damals mittelgradigen) depressiven Episode. Der vom Kläger geschilderte Beschwerdeverlauf sei aus ärztlicher Sicht schlüssig. […]

Die im Raum stehende Abschiebung führe zu einer beginnenden Retraumatisierung. Nach ärztlicher Einschätzung werde der Kläger eine Rückführung nach Armenien, Aserbaidschan oder in die Ukraine und die damit verbundenen veränderten Lebensumstände nicht verkraften (Stellungnahme vom … 2018). In Ländern, wo der Kläger traumatisierende Erlebnisse gemacht habe, sei eine Behandlung äußert ungünstig und kontraindiziert (Stellungnahme vom … 2017, S. 3). Der Kläger bedürfe dingend einer sicheren psychosozialen Umgebung und intensiver psychiatrisch-psychotherapeutischer Maßnahmen. Anderenfalls sei eine weitere Dekompensation in akute Suizidalität höchstwahrscheinlich.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger zu der nach den fachärztlichen Stellungnahmen erforderlichen medizinischen Versorgung in Armenien auf Grund seiner individuellen finanziellen und gesundheitlichen Verhältnisse keinen Zugang haben wird. […]

Wegen der weiterhin bestehenden Korruption spricht viel dafür, dass eine PTBS-Behandlung in Armenien zwar auf dem Papier kostenlos erfolgt, Patienten jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit "Zuzahlungen" in unbekannter Höhe leisten müssen. Deren Finanzierung dürfte dem Kläger, der über keine Schul- und Berufsausbildung verfügt, schwerfallen. […]

Jedenfalls ist für den Kläger in Armenien der Zugang zur der erforderlichen medikamentösen Versorgung nicht gewährleistet. […] Auf Grund der ärztlichen Stellungnahmen ist aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ohne Fortsetzung der psychiatrischen Behandlung zeitnah eine akute Suizidalität eintritt.

Die Frage einer Retraumatisierung durch eine Abschiebung nach Armenien lässt das Gericht deshalb dahinstehen. […]