Subsidiärer Schutz für einen Sunniten aus der zentralirakischen Provinz Ninive wegen der allgemeinen humanitären Lage in seiner Heimatregion:
1. In der Region Ninive droht Rückkehrenden aufgrund der schlechten, allgemeinen humanitären Lage ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG.
2. Die Region Kurdistan-Irak ist durch den Zustrom von Binnenvertriebenen stark betroffen und kommt als interne Schutzalternative insbesondere für Personen ohne Schulabschluss nicht in Betracht, bei denen nicht zu erwarten ist, dass sie zeitnah eine Arbeit finden.
(Leitsatz der Redaktion)
[…]
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. […]
Der Kläger ist nicht mit Blick auf die vorgetragene Anzeige zweier IS-Mitglieder und deren Folgen vorverfolgt ausgereist. Seine Angaben sind insoweit unglaubhaft. […] Aber selbst wenn man seine Angaben als wahr unterstellt, ist damit eine Vorverfolgung nicht dargetan. Soweit er in der mündlichen Verhandlung berichtet hat, nach der Anzeige sei der IS in regelmäßig zu seinem Dorf gekommen und habe nach der Person gesucht, die Informationen weitergegeben habe, ist bereits nicht erkennbar, dass den IS-Mitgliedern bekannt gewesen wäre, dass dies der Kläger gewesen war, und sie gezielt nach ihm gesucht hätten. Im Übrigen liegt darin noch keine hinreichend gravierende Verfolgungshandlung; insbesondere ist die Schwelle psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) nicht überschritten. […]
Dem Kläger droht zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) auch keine Gruppenverfolgung durch den IS.
Es kann offen bleiben, ob der Kläger bei seiner Ausreise aus dem Irak im Jahr 2015 als gemäßigter Sunnit in seiner Heimatregion Niniwe einer Gruppenverfolgung durch den IS ausgesetzt war. Denn jedenfalls sprechen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt stichhaltige Gründe dagegen, dass er im Falle seiner Rückkehr erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wäre.
Die irakischen Streitkräfte haben inzwischen die Kontrolle über die vom IS besetzten Gebiete zurückerlangt. Ebenso gehen die dortigen Sicherheitskräfte sowie die Justiz massiv gegen den IS vor. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, wie der IS seine Dominanz im Irak wiedererlangen könnte, die er insbesondere in den Jahren 2014 und 2015 dort hatte. […]
2. Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG. […]
Ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht dem Kläger wegen der allgemeinen humanitären Lage in seiner Heimatregion. […]
Es ist derzeit noch zu erwarten, dass es dem Kläger nicht gelingen wird, bei Rückkehr in seine Herkunftsregion Niniwe seine elementaren Bedürfnisse ausreichend zu befriedigen. Den vorliegenden Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass die Stadt Mossul, aus der der Kläger stammt, und ihre Umgebung eine Trümmerlandschaft darstellen. […] Die prekäre Sicherheitslage in den rückeroberten Gebieten ist zudem vor allem durch IEDs (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt; IS-Kämpfer verüben weiterhin Anschläge. Die Kontrolle über Mossul und über die gesamte Provinz Niniwe ist stark fragmentiert, Zuständigkeiten sind oft unklar und ändern sich ständig (vgl. zum Vorstehenden Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 57 ff.). Sechsundvierzig Prozent der Iraker, die auf Hilfe angewiesen sind - vier Millionen Menschen - leben in der Provinz Niniwe, die am stärksten von der humanitären Krise im Land betroffen ist (vgl. UNOCHA, 2018 Humanitarian Response Plan, Februar 2018). Auch nach der Befreiung der Gebiete vom IS wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 12. Februar 2018, S. 11). Angesichts dieser prekären Situation ist auch mit Blick die familiären Bindungen des Klägers in der Provinz Niniwe nicht zu erwarten, dass er sich dort eine Lebensgrundlage schaffen können wird, zumal nach seinem glaubhaften Vorbringen seine Mutter, seine Schwester, seine Großeltern sowie ein Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits, die ebenfalls aus Mossul geflohen sind, weiterhin in Bardiya in sehr einfachen Verhältnissen leben und seine Mutter selbst auf Hilfsleistungen angewiesen ist. Die humanitäre Lage ist gemäß § 4 Abs. 3, § 3c AsylG im Wesentlichen auf den IS und rivalisierende Milizen als nichtstaatliche Akteure zurückzuführen (vgl. US Department of State, Human Rights Report 2017, S. 21).
Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung besteht für den Kläger auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG. […]
Gemessen hieran kann dem Kläger vernünftigerweise nicht zugemutet werden, sich in der Region Kurdistan-Irak niederzulassen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass es dem Kläger nicht gelingen würde, sich dort eine wirtschaftliche Existenzgrundlage .zu schaffen und ein menschenwürdiges Dasein zu sichern.
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist eine innerirakische Migration in die Region Kurdistan-Irak zwar grundsätzlich möglich. Durch den Zustrom von Binnenvertriebenen ist die. Region Kurdistan-Irak allerdings stark betroffen. […]
Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger angesichts der Vielzahl in der Region Kurdistan-Irak befindlichen Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, der humanitären Krise und den lediglich beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten in der Lage wäre, zeitnah eine Erwerbstätigkeit zu finden und das Existenzminimum zu sichern. Er verließ die Schule ohne Abschluss und hat keinen Beruf gelernt. In der Vergangenheit hat er in der Gastronomie gearbeitet. Aufgrund der beschriebenen prekären wirtschaftlichen Lage ist nicht anzunehmen, dass er in Kurdistan-Irak eine hinreichende Arbeit finden wird. Über ein unterstützungsbereites Netzwerk in der Region Kurdistan-Irak, das ihm etwa helfen könnte, eine Erwerbstätigkeit und Unterkunft zu finden, verfügt er nicht; nach seinem glaubhaften Vorbringen leben seine Verwandten mütterlicherseits in Niniwe und besteht zu den Verwandten auf Seiten seines kurdischen Vaters, der früh verstorben sei und den er nie kennengelernt habe, kein Kontakt. […]