VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 27.09.2018 - 23 L 550.18 - asyl.net: M26626
https://www.asyl.net/rsdb/M26626
Leitsatz:

Anspruch auf Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft nach ASOG für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen trotz Bezugs ergänzender Leistungen nach SGB II.  Ein Verweis auf Rückreisemöglichkeit ins Herkunftsland ist nur dann möglich, wenn dort eine konkrete Unterkunftsmöglichkeit zur Verfügung steht oder die Unterbringung in ein vom Gefahrenabwehrrecht nicht mehr gedecktes "Dauerwohnen" umschlagen würde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, SGB II, Obdachlosigkeit, Arbeitnehmer, Unterbringung,
Normen: ASOG § 17 Abs. 1, SGB II § 7
Auszüge:

[...]

Der geltend gemachte Anspruch der Antragsteller gegen den Antragsgegner, sie vorläufig in eine Unterkunft einzuweisen, ergibt sich aus § 17 Abs. 1 ASOG. Danach können die Ordnungsbehörden und die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Unfreiwillige Obdachlosigkeit stellt eine Störung der öffentlichen Sicherheit dar (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 7. Februar 2013 - 1 B 1/13 -, juris Rn. 16; OVG Sachsen, Beschluss vom 26, Januar 2016 - 3 B 358/15 -, juris Rn. 3 m.w.N.), zu deren Abwendung der Antragsgegner als Ordnungsbehörde verpflichtet ist. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat in zwei ähnlich gelagerten Eilverfahren entschieden, dass Unionsbürger während der Zeit der Klärung ihrer - grundsätzlich vorrangigen - sozialrechtlichen Ansprüche zur Abwendung und Vermeidung der Obdachlosigkeit einen Anspruch auf vorläufige Unterbringung nach dem Gefahrenabwehrrecht haben. Ein solcher Anspruch scheide - wegen einer Rückreiseoption - nur dann aus, wenn im Herkunftsland des Betroffenen tatsächlich konkrete Unterkunftsmöglichkeiten gegeben sind oder wenn die vorzunehmende Obdachloseneinweisung sonst in ein vom Gefahrenabwehrrecht nicht mehr gedecktes Dauerwohnen "umschlagen" könnte und hierdurch unionsrechtlich zulässige, sozialrechtliche Beschränkungen unterlaufen würden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 13, April 2016 - OVG 1 S 123.15/OVG 1 M 49.15 -, Abdruck S, 5 ff. und vom 11. April 2016 - OVG 1 S 1.16/OVG 1 M 2.16 -, juris Rn. 7 ff.; siehe ferner Beschluss vom 13. Juli 2016 - OVG 1 M 21.16 -, juris Rn. 4 ff.). Diese obergerichtliche Rechtsprechung gilt im vorliegenden Fall sinngemäß; darauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Die Antragsteller sind im Bundesgebiet lebende Unionsbürger und obdachlos bzw. von Obdachlosigkeit unmittelbar bedroht. Sie sind derzeit in der "Notunterkunft für wohnungslose Familien" des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte e.V. untergebracht und müssen den ihnen kostenfrei nur vorübergehend zur Verfügung gestellten Wohnplatz umgehend verlassen. Ferner haben sie durch Vorlage eigener eidesstattlicher Versicherungen glaubhaft gemacht, dass sie trotz intensiver Bemühungen bisher keine Wohnung auf dem Berliner Wohnungsmarkt finden konnten. Dies wird auch durch die Schreiben des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte e.V. vom ... 2018 und vom ... 2018 bestätigt. Sie können entgegen der Auffassung des Antragsgegners auch nicht auf eine Rückreisemöglichkeit in ihr Heimatland verwiesen werden. Sie haben hinreichend substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht, in ihrem Herkunftsland Rumänien über keine Unterbringungsmöglichkeiten (mehr) zu verfügen und insbesondere nicht wieder bei der Mutter des Antragstellers zu 1 einziehen zu können. Weder die Mutter des Antragstellers zu 1 noch die Mutter der Antragstellerin zu 2 sind - angesichts der ohnehin sehr beengten Wohnverhältnisse - bereit, die Antragsteller aufzunehmen. Die Antragsteller verfügen auch nicht aufgrund des Bezugs von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch über Mittel, um sich eine Unterkunft zu verschaffen. Sie erhalten ausweislich des vorliegenden Bescheides des Jobcenters Berlin Reinickendorf vom 19. Juli 2018 lediglich den monatlichen Regelbedarf, aber keine Unterkunftskosten; insoweit sind ihre sozialrechtlichen Ansprüche noch nicht abschließend geklärt. Schließlich droht auch kein "Umschlagen" der (gefahrenabwehrrechtlichen) Obdachloseneinweisung in ein - den Regelungen des Sozialrechts vorbehaltenes - Dauerwohnen. Der Hinweis des Antragsgegners, ein Anspruch auf Sozialleistungen werde bei fehlendem Aufenthaltsrecht unter Verweis auf die möglichen Leistungen im Herkunftsland vom Gesetzgeber nicht gesehen (§ 7 SGB II und § 23 SGB XII), verfängt nicht. Die Antragsteller sind offenkundig nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Vielmehr beziehen sie (ergänzende) Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und bemühen sich intensiv um eine eigene Wohnung. [...]