VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 14.08.2018 - 1 B 27/18 - asyl.net: M26637
https://www.asyl.net/rsdb/M26637
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz gegen Abschiebung wegen ernsthafter Zweifel an der Ablehnung eines Abschiebungsverbots:

Eine gesundheitlich eingeschränkte, nicht beruflich ausgebildete, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, von denen eines eine geistige Behinderung hat, droht bei einer Rückkehr nach Nepal existenzielle Notlage i.S.d. Art 3 EMRK

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Nepal, alleinerziehend, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Zweitantrag, Unzulässigkeit, ernstliche Zweifel, besonders schutzbedürftig, psychische Erkrankung, Krankheit, Schwerbehinderung, geistige Behinderung, Autismus,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

17 Die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) berichtet (www.giz.de/de/weltweit/378.html - abgerufen am 10.4.2018), dass im April/Mai 2015 die Regionen im Zentrum von Nepal wiederholt von starken Erdbeben heimgesucht wurden, bei denen fast 10.000 Menschen um Lebens kamen und schwere Schäden an Häusern und Infrastruktur entstanden. Die Schadensbewältigung und der Wiederaufbau verlangen dem Land bis heute große Anstrengungen ab. Die Konsequenzen der Katastrophe für die ohnehin fragile Volkswirtschaft sind enorm. Im Wirtschaftsjahr 2015/16 lebt ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Auch wenn Nepal erhebliche Fortschritte bei der Armutsbekämpfung, Gesundheit und Hygiene gemacht hat, leidet fast die Hälfte aller nepalesischen Kinder unter chronischer Unterernährung. Aufgrund des Erdbebens hatten etwa 1,4 Millionen Menschen keinen Zugang zu Nahrungsmitteln und sauberem Wasser mehr. Die hygienischen Verhältnisse und die Gesundheitsversorgung waren katastrophal (GIZ "Wiederaufbau nach den Erdbeben von April/Mai 2015" unter: www.giz.de/de/weltweit/36180.html - abgerufen am 10.4.2018). Durch eine ungleiche Verteilung der Katastrophenhilfe nach den Erdbeben wurden benachteiligte Gruppen diskriminiert; in allen betroffenen Gebieten kam es zu Verzögerungen beim Wiederaufbau. Den zehntausenden von den Erdbeben betroffenen Menschen wurde 2016 weiterhin das Recht auf angemessenes Wohnen und auf andere Menschenrechte verweigert (Bundesamt der Rep. Österreich für Fremdenwesen und Asyl - BFA -, Länderinformationsblatt Nepal (Stand: 21.6.2017) S. 13). Der zehnjährige Bürgerkrieg (bis 2008) hat die wirtschaftliche Entwicklung des Landes deutlich beeinträchtigt. Die schweren Erdbeben und die innenpolitische Krise nach Verkündung der neuen Verfassung im September 2015 haben zu einem weiteren Einbruch der Wirtschaft geführt. Nepal ist das zweitärmste Land Südasiens und zählt zu den 20 ärmsten Ländern der Welt. Die Landwirtschaft beschäftigt mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen. Die offizielle Erwerbslosenquote ist relativ niedrig, die Unterbeschäftigung jedoch weit verbreitet. Schätzungen gehen davon aus, dass 4 bis 5 Millionen Nepalesen im Ausland arbeiten (bei einer Gesamtbevölkerung von rd. 30 Millionen Einwohnern). Nach den Erdbeben April/Mai 2015 waren 3,5 Millionen Einwohner obdachlos. Der Wiederaufbau läuft nur schleppend (BFA, Länderinformationsblatt (Stand: 21.6.2017) S. 17 f.). Nepal verfügt außer den familiären sozialen Netzwerken über kein Wohlfahrtssystem. In bestimmten Fällen sind NGO’s bemüht, diese Lücke zu schließen, aber deren Tätigkeit ist sehr stark von dem jeweiligen Standort und von internationalen Spenden abhängig. Nur vereinzelt gibt es Privatinitiativen. Die öffentlichen Sozialdienste sind rückständig und unzureichend, obschon sich die Situation in den letzten Jahren leicht verbesserte. Eine ausreichende medizinische Grundversorgung besteht in Kathmandu und den gängigen Touristenzielen. Da es in Nepal aber eine Krankenversicherung nicht gibt, müssen alle für die Behandlung erforderlichen Medikamente und Heilmittel selbst besorgt werden, so dass für die Ärmsten der Armen praktisch keine medizinische Versorgung möglich ist (BFA, Länderinformationsblatt (Stand: 21.6.2017), S. 19 f.; ebenso AA, Auskunft v. 6.6.2016).

18 Zwar ist es in größeren Städten wie Kathmandu und Pokhara für eine Frau grundsätzlich möglich, die allein für ihre Kinder sorgt, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Allerdings müssen die Kosten für Schule und Kindergarten vom Einkommen aufgebracht werden. Eine Frau, die eine höhere Bildung genossen hat, sollte hierzu in der Lage sein. Gehälter, die für unqualifizierte Arbeit gezahlt werden, sind oft sehr niedrig. Für eine Unterbringung der Kinder in staatlichen Schulen oder Kindergärten sollte das Gehalt jedoch ausreichen, ebenso wie für das Mieten einer kleinen Wohnung oder eines Zimmers. Ob eine alleinstehende Frau tatsächlich in der Lage ist, sich selbst und ihre Kinder zu versorgen, hängt stark vom Einzelfall ab (AA, Auskunft v. 6.6.2016).

19 Aufgrund dieser Auskunft verneinte das Bundesamt ein Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen im Zielgebiet. Dabei berücksichtigte es nicht hinreichend nachstehend aufgeführte Gesichtspunkte: Die Antragstellerin verfügt nicht über eine höhere Bildung oder eine Berufsausbildung, so dass sie allenfalls ein Einkommen für unqualifizierte Arbeit erzielen könnte. Die Klägerin ist - unabhängig von der korrekten medizinischen Einordnung (dazu nachfolgend) - gesundheitlich beeinträchtigt, so dass es für sie als beruflich Unqualifizierte besonders schwierig fallen dürfte, überhaupt eine Arbeitsstelle zu erlangen. Daneben hat sie zwei Kinder im Alter von vier und sechs Jahren zu versorgen und zu betreuen. Eines ihrer Kinder - der Antragsteller zu 2.) - ist aufgrund einer Behinderung dauerhaft gesundheitlich beeinträchtigt. Es wurde ein frühkindlicher Autismus (ICD-10 F84.0), eine schwere kombinierte Entwicklungsstörung (ICD-10 F 83), eine rezeptive und expressive Sprachentwicklungsstörung (ICD-10 F 80.28 und F 80.1) sowie Hinweise für eine unterdurchschnittliche Intelligenz attestiert (Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Kinder- und Jugendalters der Medizinischen Fakultät der Universität ..., Attest v. ... 2017 - Bl. 94 der Gerichtsakte). Aufgrund dieser Behinderung und der gesundheitlichen Einschränkungen ist das Kind verhaltensauffällig und bedarf einer intensiven Betreuung. So kann es Gefahrenquellen nicht erkennen und Absprachen nicht einhalten. Bei Außenaktivitäten ist deshalb der Einsatz eines Körperharnisches mit Leine oder eines Buggys notwendig. Mit weiteren Attest der Klinik vom ... 2018 (Bl. 92 der Gerichtsakte) wird bescheinigt, dass das Kind bei fehlender Einsicht für die Mutter sehr fordernd ist und eine sprachliche Kommunikation (bis auf wenige Wörter) nicht möglich ist. Außerdem wird bescheinigt, dass eine Sonderbeschulung notwendig sein wird. Seine Kommunikationsfähigkeit mit der Umwelt ist sehr stark eingeschränkt und es ist auf ein stark strukturiertes Umfeld und dauerhafte Unterstützung angewiesen, um einfachste alltägliche Tätigkeiten selbstständig durchzuführen und zu erlernen.

20 Unter Berücksichtigung der vorstehenden Gesichtspunkte dürfte es eher nicht wahrscheinlich sein, dass die Antragstellerin eine Einrichtung finden könnte, die ihr behindertes Kind aufnehmen und die Betreuung über den Tag übernehmen wird, um einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Aufgrund der beschriebenen Folgen der Behinderung dürfte es eher fernliegend sein, dass eine Betreuung des Kindes in einem allgemeinen Kindergarten oder einer Schule in Nepal möglich sein wird. Sollte eine spezielle Einrichtung (etwa eine Sonderschule) in Nepal überhaupt vorhanden sein, müsste die Antragstellerin zu 1.) - wie dies bei allgemeinen Kindergärten und Schulen der Fall ist - voraussichtlich die damit verbundenen Kosten tragen. Nach alledem unterliegt es nach derzeitiger Erkenntnislage ernstlichen Zweifeln, ob der gesundheitlich beeinträchtigten Antragstellerin ohne Unterstützung aus ihrem familiären Netzwerk ansatzweise gelingen kann, die existentiellen Bedürfnisse wie Essen und Unterkunft für sich und ihre zwei Kinder abzudecken und nicht in extremer Armut und Bedürftigkeit zu enden. [...]