VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 25.07.2018 - W 9 K 17.30494 - asyl.net: M26647
https://www.asyl.net/rsdb/M26647
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Paschtunen aus Afghanistan wegen Bedrohung durch die Taliban:

1. Für vorverfolgt ausgereiste Mitarbeitende von Nichtregierungsorganisationen, die der Taliban bereits bekannt sind, besteht bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer erneuten Verfolgung. 

2. Insbesondere für paschtunische Volkszugehörige besteht in Kabul keine interne Schutzalternative, da diese durch die Taliban leichter zu identifizieren sind als Angehörige anderer Volksgruppen.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Kabul, Nichtregierungsorganisation, Hilfsorganisation, Paschtunen, Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, Vorverfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3e,
Auszüge:

[…]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. […]

Mit seinem Vorbringen konnte der Kläger glaubhaft machen, dass er aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure Afghanistan verlassen hat und ihm bei einer Rückkehr gezielt Verfolgungsmaßnahmen nichtstaatlicher Akteure mit asylrelevanter Intensität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit drohen würden. […]

Der Kläger war nach seinem glaubhaften Vortrag, der von der Auskunftslage gestützt wird, als Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, die u.a. die Bildung von Frauen in Afghanistan fördert, in der Provinz Helmand von regierungsfeindlichen Kräften in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise bedroht.

Afghanische Mitarbeiter von nationalen und internationalen Hilfsorganisationen sind Ziel von Anschlägen regierungsfeindlicher Gruppen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 31.5.2018, S. 18). […] Zu den primären Zielen gezielter oder versuchter gezielter Tötungen gehören u.a. Mitarbeiter von humanitären Hilfs- oder Entwicklungsorganisationen. Über gezielte Tötungen hinaus setzen die regierungsfeindlichen Kräfte Bedrohungen, Einschüchterungen, Entführungen und Brandanschläge ein, um Gemeinschaften und Einzelpersonen einzuschüchtern und auf diese Weise ihren Einfluss und ihre Kontrolle zu erweitern, indem diejenigen angegriffen werden, die ihre Autorität und Anschauungen infrage stellen (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, S. 38 f.). Es werden Personen von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen, die vermeintlich Werte angenommen haben, die mit westlichen Ländern in Verbindung gebracht werden und denen deshalb unterstellt wird, die Regierung und die internationale Gemeinschaft zu unterstützen. Ähnlich kann Mitarbeitern von humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisationen von regierungsfeindlichen Gruppen zur Last gelegt werden, Werte übernommen zu haben, die mit westlichen Ländern in Zusammenhang gebracht werden (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016,5. 46 f.). […]

Nach allem ist das Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung vorliegend gegeben, da die erlittenen Verfolgungsmaßnahmen, die sich gegen die körperliche Unversehrtheit und das Leben des Klägers richteten, an eine der vom Verfolger abweichende (sei es auch nur vermeintliche) politische Grundhaltung anknüpften und der verfolgende nichtstaatliche Akteur mit seinen Handlungen diese (vermeintliche) Einstellung bekämpfen wollte (vgl. zum Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3b AsylVfG Rn. 23).

Der somit vorverfolgte Kläger kann die Vermutung einer erneuten Verfolgung im Falle der Rückkehr nach Art. 4 Abs. 4 QRL für sich in Anspruch nehmen. Die Verfolgungsvermutung ist nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt, die dafür sprechen, dass ihm im Falle der Rückkehr keine Verfolgung mehr droht. Es erscheint daher auch schlüssig, dass der Kläger wegen dieser Verfolgung sein Herkunftsland verlassen hat. Die Verfolgungsvermutung hat sich vorliegend sogar noch verstärkt, da nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers, der bei der Schilderung der Ereignisse nach seiner Ausreise sichtlich bedrückt wirkte, sein Vater im März 2017, als er sich zur Pachterhebung in Musa Qala befunden hat, von den Taliban mitgenommen worden ist. Effektiver Schutz durch staatliche Organe steht dem Kläger im Herkunftsland nicht zur Verfügung. […]

Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Schutzalternative i.S.d. § 3e AsylG zur Verfügung (vgl. VG Würzburg, U.v. 22.12.2016 - W 5 K 16.30837; VG Hamburg, U.v. 10.9.2014 - 10 A 477/13 - juris Rn. 68 f.; VG Gelsenkirchen, U.v. 7.8.2014 - 5a K 2573/13.A - juris Rn. 45; VG München, U.v. 4.6.2014 - M 23 K 11.30549 - juris; U.v. 23.1.2014 - M 10 K 13.30629 - juris; U.v. 7.12.2011 - M 23 K 11.30139 - Asylmagazin 2012, 148). […] Der Kläger ist den Taliban namentlich bekannt und konnte ihnen bislang entkommen. Die Taliban besitzen in Kabul ihre eigenen Informationsnetzwerke (vgl. zu Zwangsrekrutierungen Dr. Danesch, Gutachten vom 30.4.2013 an das OVG Lüneburg). […] Es ist daher nicht davon auszugehen, dass es dem Kläger möglich wäre, dauerhaft unerkannt in einem anderen Landesteil zu leben, zumal es sich bei ihm um einen paschtunischen Volkszugehörigen handelt, der z.B. in Kabul leichter identifiziert werden kann als ein nicht-paschtunischer Volkszugehöriger (vgl. Dr. Danesch, Gutachten vom 30.4.2013 an das OVG Lüneburg, dort S. 6). […]