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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 13.09.2018 - V ZB 151/17 (Asylmagazin 12/2018, S. 459 f.) - asyl.net: M26659
https://www.asyl.net/rsdb/M26659
Leitsatz:

Keine Fluchtgefahr bei verzögerter Passvorlage und Vorbringen von Gründen, die einer Abschiebung entgegenstehen:

1. Die verspätete Vorlage des Passes begründet für sich noch keine Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 3 AufenthG wegen Mitwirkungspflichtverletzung; vielmehr ist für ein "aktives Entgegenwirken" notwendig, dass die betroffene Person gezielt die Abschiebung verhindert.

2. Das Vorbringen von Gründen, die einer Abschiebung nach Afghanistan entgegenstehen könnten (hier: keine Familienangehörigen in Afghanistan; die gesamte Familie befinde sich im Iran) begründet keine Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG wegen Entziehungsabsicht. Daraus lässt sich möglicherweise noch schließen, dass keine freiwillige Ausreise erfolgen werde, jedoch nicht, dass sich die betroffene Person der zwangsweisen Überstellung entziehen werde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Abschiebungshaft, Afghanistan, Fluchtgefahr, Mitwirkungspflicht, Identitätsfeststellung, Passbeschaffung, freiwillige Ausreise, zwangsweise Überstellung,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5, AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 3, AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 5, AufenthG § 62,
Auszüge:

[…]

5 1. Auf der Grundlage der Feststellungen des Beschwerdegerichts kann das Vorliegen des Haftgrundes nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 3 und 5 AufenthG nicht angenommen werden.

6 a) aa) Nach § 2 Abs. 14 Nr. 3 AufenthG kann ein Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr vorliegen, wenn der Ausländer gesetzliche Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat und aus den Umständen des Einzelfalls geschlossen werden kann, dass er einer Abschiebung aktiv entgegenwirken will. […] "Aktiv entgegenwirken" heißt, dass der Ausländer nicht nur passiv die weitere Entwicklung abwarten, sondern die Abschiebung gezielt verhindern will. Dementsprechend ist eine Entziehungsabsicht nicht schon bei jeder unterlassenen Mitwirkung bei der Passersatzbeschaffung anzunehmen. Ein entsprechender Rückschluss ist vielmehr nur zulässig, wenn das genannte Verhalten einem aktiven Entgegenwirken gleichkommt (vgl. BT-Drucks. 18/4097 S. 33; Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 12. Aufl., AufenthG § 62 Rn. 90; NK-AuslR/Stefan Keßler, 2. Aufl., AufenthG § 2 Rn. 39; kritisch zu diesem Tatbestand Beichel-Benedetti in Huber, AufenthG, 2. Aufl., § 2 Rn. 34).

7 bb) Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist von dem Beschwerdegericht nicht festgestellt worden. Es fehlt bereits an Feststellungen dazu, dass die Aufforderungen an den Betroffenen, sich innerhalb der jeweils gesetzten Fristen einen Pass oder Passersatz seines Heimatstaates zu beschaffen, der Vorbereitung der Abschiebung des Betroffenen dienten und nicht lediglich der Durchsetzung der Passpflicht nach § 3 Abs. 1 AufenthG. Zudem tragen die Feststellungen nicht die Annahme, der Betroffene habe die Mitwirkungshandlung verweigert oder unterlassen. Der Aufforderung, sich einen Pass zu beschaffen, ist er nach den Ausführungen des Beschwerdegerichts nachgekommen. Es sind keine Feststellungen dazu getroffen, dass der Betroffene aufgefordert war, der Behörde den von ihm beschafften Pass vorzulegen. Schließlich rechtfertigt der Umstand, dass der Betroffene der Behörde den bereits 2013 ausgestellten Pass erst am 6. September 2016 vorgelegt hat, nicht die Annahme, dass er seine Abschiebung gezielt habe verhindern wollen. Die verzögerte Vorlage des Passes könnte allenfalls eine Unterlassung im Zeitraum bis zum 6. September 2016 begründen, lässt aber nicht den Schluss zu, dass der Betroffene auch nach diesem Zeitpunkt seine Abschiebung gezielt verhindern wollte, was für die erst am 6. Dezember 2016 angeordnete Haft indes erforderlich gewesen wäre.

8 b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts ließ sich die Annahme der Fluchtgefahr auch nicht auf § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG stützen.

9 aa) Nach dieser Vorschrift kann die ausdrückliche Erklärung des Ausländers, dass er sich der Abschiebung entziehen will, ein Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr sein. […]

10 bb) […] Seine Erklärung, er habe niemanden in Afghanistan, seine gesamte Familie lebe im Iran, besagt nur, dass der Betroffene eine Präferenz für den Iran als Aufenthaltsort hat. Hieraus lässt sich möglicherweise noch schließen, dass er nicht freiwillig nach Afghanistan ausreisen würde. Ohne weitere Nachfrage lässt sich aus der Äußerung aber nicht mit der für einen Haftgrund erforderlichen Sicherheit der Schluss ziehen, dass er sich einer zwangsweisen Abschiebung nach Afghanistan entziehen würde. Dass die Äußerung auf die Frage erfolgte, ob er sich einer Abschiebung stellen würde - hierauf stellt das Beschwerdegericht maßgeblich ab -, reicht für einen solchen Schluss nicht aus. Hinzu kommt, dass der Betroffene freiwillig bei der Ausländerbehörde erschienen ist und dort seinen Pass vorgelegt hat. Es bestehen daher auch keine Gesamtumstände, in deren Kontext die Aussage des Betroffenen im Sinne einer ausdrücklichen Erklärung, sich der Abschiebung entziehen zu wollen, zu verstehen sein könnte. […]