Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für einen jungen volljährigen, aber scheuen und retardierten Mann ohne Familienangehörigen in Afghanistan, weil es ihm an Durchsetzungsvermögen fehlt, um allein in Afghanistan eine Existenzgrundlage zu finden.
(Leitsatz der Redaktion)
[…]
Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG. […]
Die allgemein ungünstigen Verhältnisse in Afghanistan vermögen hier noch kein Abschiebungsverbot zu begründen. Denn bei diesen der Bevölkerung allgemein drohenden Gefahren gilt der Vorrang einer politischen Leitentscheidung im Wege einer generellen Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a AufenthG. Diese Sperrwirkung ist allerdings im Wege der verfassungskonformen Auslegung dann einzuschränken, wenn dem Ausländer wie hier bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine extreme Gefahrenlage dergestalt drohen würde, dass er gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt sein würde und die obersten Landesbehörden von der nach § 60a AufenthG bestehenden Ermächtigung, die Abschiebung auszusetzen, keinen Gebrauch gemacht haben. […]
Im Falle des Klägers muss davon ausgegangen werden, dass die Anforderungen an das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage bei Rückkehr nach Afghanistan erfüllt sind. Dabei stützt das Gericht seine Erwägungen nicht abstrakt darauf, dass Afghanistan von einer problematischen wirtschaftlichen Situation geprägt ist, die zu einer schwierigen Versorgungslage führt und eines der ärmsten Länder der Welt ist, sondern auf die besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls. […]
Nach Maßgabe dieser individuellen Prüfung ist das Gericht davon überzeugt, dass es dem Kläger nicht möglich wäre, im Falle einer Rückkehr auch nur ein minimales Einkommen zu erzielen und seinen Lebensunterhalt sichern zu können. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr alleine nicht in der Lage wäre Arbeit oder Obdach zu finden und nicht nur prekären, sondern akut lebensgefährlichen Lebensbedingungen ausgesetzt wäre. […]
Das Gericht stützt diesen Schluss auf die folgenden Überlegungen:
Zunächst ist die persönliche Reife des Klägers als gering einzustufen. […] Das Gericht neigt dazu dem Kläger insoweit Glauben zu schenken, wobei es indes nicht entscheidend darauf ankommt, ob der Kläger 19 1/2 oder 18 Jahre alt ist. Unabhängig von seinem faktischen Alter präsentierte sich der Kläger nämlich im Rahmen der mündlichen Verhandlung als überdurchschnittlich zaghafter und stiller Mensch, dessen Durchsetzungsvermögen und Belastbarkeit zur Überzeugung des Gerichts am unteren Ende des Spektrums angesiedelt sind. […] Seine Angaben zu der politischen Situation von Hazara und Schiiten waren naiv und kindlich. Insgesamt hält das Gericht den subjektiven Reifeprozess des Klägers im Rahmen seiner Bewertung nach alldem für so retardiert, dass er allenfalls auf dem Papier als "erwachsen" (bzw. als "Heranwachsender" im Sinne des deutschen Rechts) bezeichnet werden kann.
Dies wird verstärkt und erklärt durch den Vortrag des Klägers zu seiner Erziehung, konkret durch den Umstand, dass sein Vater von jeher alle wesentlichen Entscheidungen für ihn getroffen hat und insbesondere seine Flucht aus Afghanistan initiiert und organisiert hat. Der Kläger selbst scheint dahingehend einen eigenen Willen weder geäußert noch manifestiert zu haben und sich den Anweisungen seines Vaters desinteressiert gebeugt zu haben. […]
Da seine Eltern zwischenzeitlich selbst das Land verlassen haben und im Iran leben, müsste der Kläger aber ebendies tun. Familie in Afghanistan hat der Kläger mittlerweile keine mehr - seine Eltern und ein Onkel leben im Iran, ein weiterer Onkel in Deutschland. Damit fehlt dem Kläger jedwedes familiäre Netzwerk, welches ihn unterstützen und seinen Lebensunterhalt sichern könnte. Er selbst hat bislang keinen Beruf ausgeübt und die Schule (nur) drei Jahre lang besucht. Damit wäre es ihm allenfalls möglich, eine Tätigkeit als Tagelöhner zu finden. Einer solchen Arbeit ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts indes aufgrund seiner individuellen Eigenschaften - insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen - nicht gewachsen.
Endlich hat der Kläger sein Heimatland bereits im Jahr 2015, also in einem Alter von - je nachdem welches Geburtsdatum man zugrunde legt, hierzu oben - 16 oder 15 Jahren verlassen. Damit hat er in jedem Fall wichtige Jahre seines Entwicklungsprozesses in der Bundesrepublik Deutschland verbracht. Das Gericht geht insoweit davon aus, dass die kulturellen Normen und Umstände der Bundesrepublik Deutschland im Speziellen und einer liberalen Gesellschaft im Allgemeinen, welche der Vorbereitung eines eigenverantwortlichen Lebens als "Erwachsener" dienen, maßgebend auf den Kläger eingewirkt haben. […]