VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 05.10.2018 - 7 K 1336/18.A - asyl.net: M26708
https://www.asyl.net/rsdb/M26708
Leitsatz:

1. Kein Anspruch auf subsidiären Schutz für jungen Mann aus Somalia, da die Gefahrendichte in seiner Heimatstadt Mogadischu ohne Hinzutreten gefahrerhöhender Umstände nicht hoch genug ist.

2. Ein arbeitsfähiger junger Mann mit hilfsbereiten Familienmitgliedern im In- und Ausland kann eine Existenzgrundlage finden, insbesondere auch um Medikamente für seine Asthmaerkrankung zu kaufen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Mogadischu, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Gefahrendichte, extreme Gefahrenlage, erhebliche individuelle Gefahr, subsidiärer Schutz, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot,
Normen: AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

38,39 Somalia hat den Zustand eines "failed state" überwunden, bleibt aber ein sehr fragiler Staat. Gleichwohl gibt es keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind fragil und schwach. Die Autorität der Zentralregierung wird unter anderem vom nach Unabhängigkeit strebenden "Somaliland" (Regionen Awdaal, Wooqoi Galbeed, Toghdeer, Sool, Sanaag) im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen al-Shabaab-Miliz in Frage gestellt. Periodisch wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen und die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia seit Jahrzehnten zum Land mit größtem Bedarf an internationaler Nothilfe. In Süd- und Zentralsomalia, wo auch die Hauptstadt Mogadischu liegt, herrscht in vielen Gebieten Bürgerkrieg. Die somalischen Sicherheitskräfte kämpfen mit Unterstützung der vom VN-Sicherheitsrat mandatierten Friedensmission der Afrikanischen Union AMISOM (African Union Mission in Somalia) gegen die radikal-islamistische, al-Qaida-affiliierte al-Shabaab-Miliz. Die Gebiete sind nur teilweise unter der Kontrolle der Regierung, wobei zwischen der im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkten Kontrolle der somalischen Bundesregierung und der Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete durch die Regierungen der föderalen Gliedstaaten Somalias, die der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen, unterschieden werden muss. Weite Gebiete stehen aber auch unter der Kontrolle der al-Shabaab-Miliz oder anderer Milizen. Diese anderen Milizen sind entweder entlang von Clan-Linien organisiert oder, im Falle der Ahlu Sunna Wal Jama‘a, auf Grundlage einer bestimmten religiösen Ausrichtung. Zumindest den al-Schabaab-Kräften kommen als de facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihnen kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 07. März 2018, S. 4 f. (Stand: Januar 2018); BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Somalia vom 12. Januar 2018, S. 7 ff.).

40,41 Seit Jahrzehnten gibt es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder zentralstaatlicher Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft, hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen, insbesondere Clanstrukturen, vergeben. Im November und Dezember 2016 wurde von über 14.000 Wahlmänner und -frauen ein 275-köpfiges Parlament gewählt. Die Präsidentschaftswahl fand am. 08. Februar 2017 statt. Als Gewinner ging der frühere Premierminister Mohamed Abdullahi Mohamed "Farmajo" hervor, am 29. März 2017 wurde die neue Regierung unter Premierminister Hassan Ali Khayre bestätigt und vereidigt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 07. März 2018, (Stand: Januar 2018), S. 6; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Somalia vom 12. Januar 2018, S. 7 f.; EASO, Country of Origin Information Report: Somalia – Security Situation, Dezember 2017, S. 16 f.).

42-45 Die allgemeine Entwicklung in Somalia lässt sich auch in der Hauptstadt Mogadischu nachzeichnen. Im August 2011 wurde die al-Shabaab durch die AMISOM aus der Hauptstadt vertrieben wurde und hat ungeachtet weiterer Aktivitäten ihre Gebietsherrschaft verloren. Die Änderung der Strategie der al-Shabaab von der Territorialherrschaft – auch in der Hauptstadt – hin zu gezielten Anschlägen vor allem auf Vertreter der Regierung und internationaler Organisationen sowie auf Militärangehörige (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Somalia: Sicherheitssituation in Mogadischu – Auskunft der SFH-Länderanalyse, 25. Oktober 2013, Seite 3 f. m.N.; Bundesasylamt der Republik Österreich, Staatendokumentation – Somalia: Sicherheitslage Mogadischu, 14. März 2012, Seite 20 f.) hat zur Folge, dass sich das alltägliche Leben in Mogadischu normalisiert hat und al-Shabaab jedenfalls insoweit nicht mehr präsent ist (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Somalia, Stand: 12. Januar 2018, S. 31 ff.).

46,47 In der jüngeren Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch deutscher Oberverwaltungsgerichte besteht Einigkeit darüber, dass die Sicherheitslage in Mogadischu mittlerweile ein Stabilitätsniveau erreicht hat, welches eine Bedrohungslage im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und damit auch die Gefahr, deswegen einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, jedenfalls für Personen ohne besondere gefahrerhöhende Umstände ausschließt (vgl. EGMR, Urteil vom 05.09.2013 - Nr. 886/11, K.A.B./Schweden, Rn. 67 ff.; Urteil vom 10.09.2015 - Nr. 4601/14, R.H./Schweden, Rn. 67 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 05.12.2017 – 4 LB 50/16 –, juris Rn. 56; BayVGH, Urteil vom 22.03.2018 – 20 B 17.31709 –, juris Rn. 21; Urteil vom 28.03.2017 - 20 B 15.30204 -, juris; Urteil vom 23.03.2017 - 20 B 15.30110 -, juris; OVG RP, Urteil vom 16.12.2015 - 10 A 10689/15 -, juris).

48 Dieser Beurteilung der Gefahrenlage in Mogadischu schließt sich das Gericht nach Auswertung der verfügbaren Erkenntnismittel an. In dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Somalia des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 12. Januar 2018, S. 31 f. wird ausgeführt:

49 "Mogadischu bleibt weiterhin unter Kontrolle von Regierung und AMISOM (AI 22.2.2017). Die Stadtverwaltung von Mogadischu ist verhältnismäßig präsent und aktiv (BFA 8.2017). Schritte von Stadt- und Bundesregierung haben bei der Sicherheitslage zu einer Verbesserung geführt – speziell durch die Aufstellung der Mogadishu Stabilization Mission (MSM). Die Zahl von Angriffen der al Shabaab im jeweiligen Ramadan ist von 269 im Jahr 2015 auf 208 im Jahr 2017 zurückgegangen. Andererseits scheint sich die al Shabaab aufgrund der Erfolge der Sicherheitskräfte zunehmend auf Sprengstoffanschläge zu verlegen, welche unter der Zivilbevölkerung ein höheres Maß an Schaden verursachen (UNSC 5.9.2017). Regelmäßig kommt es zu sogenannten komplexen Anschlägen in Mogadischu, wobei ein Sprengstoffanschlag mit dem Einsatz einiger weniger bewaffneter Selbstmordkämpfer kombiniert wird. Ziele sind i.d.R. Hotels oder Restaurants, die häufig von Behördenbediensteten oder Sicherheitskräften frequentiert werden (SEMG 8.11.2017). Der Einsatz von Artillerie (Mörsern) mit Ziel Mogadischu ist wieder im Steigen begriffen. Im ersten Halbjahr 2017 kam es zu zwölf derartigen Angriffen, im Gesamtjahr 2016 waren es 17 (SEMG 8.11.2017). Am 12.6. und am 4.7.2017 wurden insgesamt neun Mörsergranaten auf Stadtgebiet abgeschossen (UNSC 5.9.2017). Dabei verfügt al Shabaab nunmehr auch über schwere, von AMISOM erbeutete Mörser (120mm), was ihre Möglichkeiten erweitert (SEMG 8.11.2017). Es ist höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab wieder die Kontrolle über Mogadischu erlangt (DIS 9.2015; vgl. EASO 2.2016). Es gibt in der Stadt auch kein Risiko mehr, von der al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden (BFA 8.2017; vgl. UKUT 3.10.2014, vgl. EGMR 10.9.2015). Es besteht zwar gemäß mehreren Berichten kein Risiko, alleine aufgrund der eigenen Clanzugehörigkeit angegriffen zu werden. Trotzdem sind Clan und Clanzugehörigkeit in Mogadischu nach wie vor relevant (SEM 31.5.2017).

50 Die Sicherheitslage hat sich also verbessert (UNSOM 13.9.2017; vgl. UNNS 13.9.2017), bleibt aber volatil (UNSC 5.9.2017). Die MSM hat einige Erfolge verzeichnet, darunter Maßnahmen zur Entwaffnung von Milizen und Zivilisten. Auch die Polizei in Mogadischu funktioniert merklich besser, als vor drei oder vier Jahren. Das Polizeikontingent der AMISOM ist aktiv. Es werden in der ganzen Stadt regelmäßig Patrouillen durchgeführt. Zusätzlich befinden sich Stützpunkte der Armee an neuralgischen Punkten der Stadt. Auch die National Intelligence and Security Agency (NISA) und ihre Spezialeinheiten werden in Mogadischu eingesetzt. Der wichtigste Faktor in Mogadischu ist aber die Präsenz der AMISOM. Sie ist in Mogadischu mit je einem Bataillon aus Uganda und Burundi, mit dem militärischen Stab und mit rund 300 Polizisten präsent. In einem gewissen Ausmaß stellt sie für al Shabaab einen Abschreckungsfaktor dar. Sie macht es für AS schwieriger, in die Stadt zu gelangen (BFA 8.2017). Auch die Regierung zeigt einige Bemühungen, die Sicherheit in der Stadt zu verbessern. Allerdings sind diese ungenügend; korrupte, unbezahlte Soldaten und unzufriedene Clans in der Peripherie ermöglichen es der al Shabaab, Mogadischu zu infiltrieren (ICG 20.10.2017).

51 Mogadischu ist folglich nicht absolut abgeschottet (BFA 8.2017). Der Amniyat ist schon seit Jahren in der Stadt aktiv und konnte Sicherheitsstrukturen unterwandern (ICG 20.10.2017). Insgesamt reicht die in Mogadischu gegenwärtig gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen. Al Shabaab hingegen verfügt eindeutig über eine Präsenz in der Stadt (BFA 8.2017). Diese Präsenz ist aber keine offen militärische, sondern eine verdeckte (DIS 3.2017). Diese ist in den Außenbezirken stärker, als in den inneren. Zentral-Mogadischu ist relativ konsolidiert. Gleichzeitig hängt die Präsenz der Gruppe auch von der Tageszeit ab. Die nördlichen Bezirke – v.a. Dayniile und Heliwaa – werden in der Nacht von al Shabaab kontrolliert (BFA 8.2017)."

52 Selbst wenn man einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt annähme, wäre nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln freilich nicht anzunehmen, dass in der Person des Klägers das Tatbestandsmerkmal der "ernsthaften individuellen Bedrohung" infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllt ist.

53,54 Eine individuelle Bedrohung ist anzunehmen, wenn der Ausländer spezifisch aufgrund von Umständen betroffen ist, die seiner persönlichen Situation innewohnen. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes "allgemein" ausgesetzt sind, stellen demgegenüber normalerweise keine individuelle Bedrohung dar. Für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung führt (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.02.2014 – 10 C 6.13 –, juris Rn. 24; BayVGH, Urteil vom 17.03.2016 – 20 B 13.30233 –, juris Rn. 27).

55,56 Die in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG getroffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Fall "allgemeiner" Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländerbehördliche Erlasse verweist, ist allerdings nach der Rechtsprechung des BVerwG richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass sie bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes, der auch und gerade die Gefahr infolge von "willkürlicher Gewalt" einbezieht, keine Sperrwirkung entfaltet. Mit dem Element willkürlicher Gewalt soll deutlich gemacht werden, dass es auch und gerade um Fälle von unvorhersehbarer, wahlloser Gewalt geht, die sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 17 ff.; Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, juris Rn. 13 ff.).

57,58 Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Ausländers kann daher bei richtlinienkonformer Auslegung selbst bei entsprechenden allgemeinen Gefahren ausnahmsweise dann als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass praktisch jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08 –, juris Rn. 13; Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10 –, juris, jeweils zu einer erheblichen individuellen Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG; BayVGH, Beschluss vom 07.04.2016 – 20 B 14.30101 –, juris Rn. 22; Beschluss vom 19.02.2015 – 13a ZB 14.30450 –, juris Rn. 7 m.N.; OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 57 ff. m.w.N.).

59,60 Zur Beantwortung der Frage, ob eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.d. § 4 AsylG vorliegt, bedarf es einer quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte, bei der die Gesamtbevölkerung in einer Region einerseits und die zivilen Opfern willkürlicher Gewalt andererseits gegenübergestellt werden. Daran anschließend ist eine wertende Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. BVerwG Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13/10 -, juris; BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 – 20 B 15.30110 –, juris Rn. 25).

61,62 Hinsichtlich der Gefahrendichte geht das BVerwG in Anlehnung an die Grundsätze, die zur Ermittlung einer relevanten "Gruppenverfolgung" herausgearbeitet worden sind, davon aus, dass eine hinreichende Gefahrendichte für die Annahme der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes vorbehaltlich einer wertenden Gesamtbetrachtung des gefundenen Ergebnisses jedenfalls dann noch nicht gegeben ist, wenn das Risiko, als Zivilperson in der innerstaatlichen Auseinandersitzung getötet oder schwer verletzt zu werden, in der zu betrachtenden Region bei 1:800 liegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10 –, juris Rn. 22).

63 Dies macht deutlich, dass es sich bei dem Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG um einen Ausnahmetatbestand für weit über der allgemeinen Gefahrenlage angesiedelte Gefahrensituationen handelt.

64,65 Nach diesen Kriterien ist eine individuelle Bedrohung nicht gegeben. Eine mathematisch genaue quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos durch Gegenüberstellung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher konfliktbedingter Gewalt ist in Somalia aufgrund der allgemeinen Situation dort zwar nicht verlässlich möglich (vgl. VG Saarland, Urteil vom 04.11.2016 – 3 K 112/16 –, juris Rn. 147).

66,67 Trotzdem kann jedenfalls eine annäherungsweise quantitative Ermittlung erfolgen, um die Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung zu erfassen. Die – freilich nur theoretische – Abschiebung des Klägers würde nach Mogadischu erfolgen; dort kommt der Kläger auch her. Seine Einwohnerzahl lässt sich nur grob schätzen, da keine aktuellen Volkszählungen existieren – die letzte ist 1987 durchgeführt worden – und umfangreiche Flucht- und Migrationsbewegungen innerhalb Somalias stattgefunden haben. Das Auswärtige Amt geht von einer deutlich über eine Million Einwohner einschließlich einer großen Anzahl Binnenvertriebener (vgl. www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Somalia_node.html – Stand: November 2017)).

68,69 Nach dem Eintrag in "The World Factbook" ist sogar von 2,138 Millionen Personen auszugehen (vgl. www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/fields/2219. html#so; in diesem Zusammenhang auch VG Minden, Urteil vom 02.12.2016 – 10 K 1883/14.A – juris Rn. 94: nach Schätzungen der letzten Jahre ca. 900.000 bis 2,5 Mio Einwohner, darunter noch etwa 370.000 Binnenvertriebene).

70,71 Zu der Einwohnerzahl – die Kammer trägt der ungenauen Datengrundlage Rechnung, indem sie von 1 Millionen Einwohnern ausgeht – ist die sich aus der Aufstellung von ACCORD (Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project - ACLED -) ergebende Zahl der Konfliktvorfälle mit Toten in Verhältnis zu setzen (vgl. zu diesem Ansatz VG Minden, Urteil vom 02.12.2016 – 10 K 1883/14.A –, juris Rn. 65; VG Saarland, Urteil vom 04.11.2016 – 3 K 112/16 –, juris Rn. 148; VG Münster, Urteil vom 20.05.2016 – 9 K 1837/14.A –, juris Rn. 72 ff.; VG München, Urteil vom 23.01.2014 – M 11 K 13.31210 –, juris Rn. 47).

72-75 Für das Jahr 2017 sind in der hier maßgeblichen Kategorie Gewalt gegen Zivilpersonen (vgl. VG Minden, Urteil vom 02.12.2016 – 10 K 1883/14.A –, juris Rn. 100 unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07 –, juris) 1.040 Todesfälle verzeichnet (vgl. ACCORD, Somalia, Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), Zusammenstellung vom 18. Juni 2018, abrufbar im Internet unter www.ecoi.net).

76 Auf dieser Grundlage wäre ein Tötungsrisiko von 1 : 961 (1.000.000 ./. 1.040) anzunehmen, wobei diese Berechnung - zugunsten des Klägers – deshalb methodisch höchst ungenau ist, weil sie unterstellt, dass sämtliche Opfer in Mogadischu zu verzeichnen waren. Das konkrete Risiko für Mogadischu allein dürfte demgemäß - bei aller Unsicherheit über die Zahl der Vorfälle - deutlich darunter liegen, so dass davon auszugehen ist, dass auch unter Einbeziehung schwerer Verletzungen nicht die oben skizzierte Grenze von 1 : 800 bei weitem überschritten ist.

77,78 Im Rahmen der gebotenen wertenden Betrachtungsweise ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Gesamtzahl der zivilen Opfer zu einem nicht unerheblichen Teil Personen mit erhöhten Gefährdungspotentialen betroffen haben dürfte. Dies hängt damit zusammen, dass nach bisheriger Erkenntnislage - bedingt durch eine strategische Auswahl der Anschlagsziele - bestimmte Berufsgruppen in besonderer Weise betroffen waren: Regierungsmitarbeiter, Angehörige von AMISOM, Mitarbeiter internationaler Organisationen, Angehörige der Sicherheitskräften, mit der Regierung zusammenarbeitende Personen, Politiker und Deserteure (vgl. Bundesasylamt der Republik Österreich, Staatendokumentation - Somalia Sicherheitslage (Stand: 25. Juli 2013), Seite 43; The Danish Immigration Service, South and Central Somalia - Security Situation, al-Shabaab Presence and Target Groups, März 2017, Seite 17 ff.; Danish Immigration Service, Security and protection in Mogadishu and South-Central Somalia – Joint report from the Danish Immigration Service´s and the Norwegian Landinfo´s fact finding mission to Nairobi, Kenya, and Mogadishu, Somalia, 6 April to 7 May 2013, Mai 2013, Seiten 6 f., 12 f.; United Nations Security Council, Report of the Monitoring Group on Somalia and Eritrea pursuant to Security Council resolution 2244 (2015) vom 31. Oktober 2016, S. 32).

79,80 Die al-Shabaab sieht es nicht gezielt auf Zivilisten ab, nimmt insoweit aber Opfer in Kauf (vgl. The Danish Immigration Service, South and Central Somalia - Security Situation, al-Shabaab Presence and Target Groups, März 2017, Seite 19; Danish Immigration Service, Update on security and protection in Mogadishu and South-Central Somalia – Joint report from the Danish Immigration Service´s and the Norwegian Landinfo ´s fact finding mission to Nairobi, Kenya, and Mogadishu, Somalia, 1 to 15 November 2013, März 2014, Seite 19).

81,82 Auf dieser Grundlage ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass eine ernsthafte individuelle Bedrohung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, wenn der Ausländer - wie hier der Kläger - nicht den oben angeführten Risikogruppen zugerechnet werden kann (vgl. ebenso BayVGH, Urteil vom 12.07.2018 – 20 B 17.31292 –, juris Rn. 22 ff.; Urteil vom 10.07.2018 – 20 B 17.31595 –, juris Rn. 22 ff.; OVG RP, Urteil vom 16.12.2015 – 10 A 10689/15 –, juris Rn. 35 ff.).

83,84 Eine Erhöhung des Risikos ergibt sich nicht aus seiner - freilich nur theoretischen - Situation als Rückkehrer nach einem Auslandsaufenthalt. Zwar sieht die al-Shabaab Rückkehrer aus westlichen Ländern möglicherweise als Spione der Regierungstruppen an (vgl. EASO Country of Origin Information report: South and Central Somalia – Country overview (Stand: August 2014), Seite 106).

85,86 Da sie in den unter der Kontrolle der Regierung stehenden Gebieten nicht mehr frei agieren kann und angesichts der Zahl von rückkehrenden Personen, v.a. auch Binnenvertriebenen, ergibt sich daraus aber nicht für jeden Rückkehrer ohne weiteres die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 08.01.2015 – RO 7 K 13.30801 –, juris Rn. 25). [...]

127,128 Auf dieser Grundlage spricht einiges dafür, dass der Kläger auch in Somalia wird behandelt werden können, zumal da die in Rede stehende Erkrankung – Asthma – nach Angaben der WHO in Somalia eine mitt - lere Verbreitung hat und also durchaus vorkommt (vgl. WHO, Country profile of Environmental Burden of Disease, 2009 (abrufbar im Internet): niedrigste Landesrate: 0,3, höchste Landesrate 2,8, Landesrate Somalia: 1,4).

129-131 Dass die Behandlung nicht kostenlos sein dürfte (vgl. LandInfo, Report – Somalia: Medical treatment and medication, August 2014 (abrufbar im Internet), S. 12) ist ohne Belang. Dem Kläger ist es zuzumuten, für seinen Lebensunterhalt und auch für seine Gesundheitsversorgung zu arbeiten.

132 Bei dem Kläger kommt hinzu, dass seine Schwester in den USA lebt und Ärztin ist. Nach Angaben des Klägers in der zweiten Anhörung hilft sie der gesamten Familie. Darauf wird sich auch er verweisen lassen müssen, soweit es etwa um die Versorgung mit Medikamenten geht. [...]