VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.09.2018 - 11 S 809/18 - asyl.net: M26712
https://www.asyl.net/rsdb/M26712
Leitsatz:

Die neue Verwirklichung von Ausweisungsinteressen (§ 54 AufenthG) ist ebenso wie das neue Entstehen von Bleibeinteressen (§ 55 AufenthG) während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gegen eine Ausweisungsverfügung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz von Amts wegen durch das Gericht unabhängig vom Vortrag der Beteiligten zu berücksichtigen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisung, Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, mündliche Verhandlung, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: AufenthG § 53,
Auszüge:

[...]

Mit Blick auf den gebundenen Charakter von Ausweisungsverfügungen nach neuem Recht - das hier unstreitig anzuwenden ist - und der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit der Ausweisungsentscheidung in tatbestandlicher Hinsicht, bei der hinsichtlich der Sach- und Rechtslage - ebenso unstreitig - auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz abzustellen ist (BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277 Rn. 12), zeigt der Antragsteller auch nicht auf, weshalb diese neuerliche strafgerichtliche Verurteilung nicht in das Verfahren hätte einbezogen werden dürfen. Vielmehr ist die neue oder erstmalige Verwirklichung von Ausweisungsinteressen (§ 54 AufenthG) ebenso wie das neue Entstehen von Bleibeinteressen (§ 55 AufenthG) während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gegen eine Ausweisungsverfügung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz von Amts wegen durch das Gericht unabhängig vom Vortrag der Beteiligten zu berücksichtigen. Dies betrifft die Problematik der Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen im Übrigen gerade nicht (zur Abgrenzung nur: Schenke/Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 113 Rn. 63, m.w.N.). Unabhängig davon, in welchem Umfang die Verwaltung berechtigt ist, die Begründung eines Verwaltungsaktes während des anhängigen Klageverfahrens zu ändern, ist zu berücksichtigen, dass Begründungsmängel bei gebundenen Entscheidungen grundsätzlich nicht zu deren Rechtswidrigkeit führen. Denn trotz fehlerhafter Begründung bleibt ein Verwaltungsakt in seinem verfügenden Teil rechtmäßig, wenn die getroffene Regelung jedenfalls im Ergebnis dem Gesetz entspricht (Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO 15. Aufl. i.E. § 113 Rn. 29). Immer dann, wenn eine gebundene Verwaltungsentscheidung zur Überprüfung ansteht und der Behörde auch kein Beurteilungsspielraum zusteht, führt eine unzutreffende Begründung nicht zum Erfolg der Anfechtungsklage. Es obliegt dem Verwaltungsgericht, zu prüfen, ob die Entscheidung aus anderen als den von der Behörde genannten Gründen rechtmäßig ist (BVerwG, Beschluss vom 05.11.2013 - 2 B 60.13 -, NVwZ 2014, 530 Rn. 7). Ist für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheids - wie hier - auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz abzustellen, ergibt sich daraus, dass Änderungen im Tatsächlichen auch umfassend zu berücksichtigen sind. Damit ist bei einer gebundenen Entscheidung auch das Auswechseln des einem Bescheid zu Grunde liegenden Sachverhaltes jedenfalls dann möglich, wenn die Entscheidungsformel unverändert bleibt (BVerwG, Urteil vom 29.06.2015 - 1 C 2.15 -, NVwZ-RR 2015, 790 Rn. 15). Dadurch wird die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht beeinträchtigt. Denn dem Betroffenen ist zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung rechtliches Gehör zu solchen Tatsachen zu gewähren, die nicht schon in dem angefochtenen Bescheid zur Stützung der Ausweisungsverfügung herangezogen worden sind. [...]