VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.09.2018 - 11 S 1973/18 - asyl.net: M26713
https://www.asyl.net/rsdb/M26713
Leitsatz:

Eilrechtsschutzverfahren bei Ablehnung eines Antrags auf Erteilung eines familiären Aufenthaltstitels:

1. Zentral für die Feststellung einer familiären Lebensgemeinschaft ist der bei beiden Eheleuten bestehende Wille, die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet tatsächlich herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft ist dabei weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Feststellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft.

2. Gerade im ausländerrechtlichen Verfahren um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gebietet § 88 VwGO eine sachdienliche Auslegung und ggf. Umdeutung der Anträge - unabhängig von der Frage der anwaltlichen Vertretung -, weil hier bereits die Abgrenzung der Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 123 VwGO nur rudimentär im Gesetz abgebildet ist und es sich um eine der wenigen Ausnahmen handelt, bei der trotz der in der Hauptsache statthaften Verpflichtungsklage entgegen § 80 Abs. 1 VwGO dennoch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO einschlägig sein kann.

3. a) Grundsätzlich kann vorläufiger Rechtsschutz zur Sicherung eines Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels bei einer Einreise ohne das erforderliche Visum nur dann gewährt werden, wenn keine Zweifel am Anspruch auf die Titelerteilung oder der Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumsverfahrens bestehen und keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen können.

b) Anderes kann dann in Betracht kommen, wenn und solange verbleibende, letzte Zweifel am Bestehen eines Titelerteilungsanspruchs auf einer nicht hinreichenden Sachaufklärung durch die zuständige Ausländerbehörde beruhen und bzw. oder die Tragfähigkeit möglicher Ermessensgesichtspunkte (hier bei der Anwendung von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) aufgrund einer unzureichenden Sachaufklärung durch die Ausländerbehörde im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht zu beurteilen ist (Fortführung der Senatsrechtsprechung aus dem Beschluss vom 20.09.2012 - 11 S 1608/12 -[asyl.net: M20064]).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: eheliche Lebensgemeinschaft, häusliche Gemeinschaft, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Rechtsmittel, einstweiliger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Visumsverfahren, Abschiebungsandrohung, familiäre Lebensgemeinschaft, Untersuchungshaft,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 81 Abs. 3, AufenthV § 39 S. 1 Nr. 3, SDÜ Art. 20, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 88, VwGO § 123 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Bei der vorzunehmenden Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung und Qualifizierung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Beistandsgemeinschaft oder aber als bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002 - 2 BvR 231/00 -, NVwZ 2002, 849 (850); so auch zuletzt VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.07.2018 - 11 S 1224/18 -, AuAS 2018, 182). Denn die Vielfalt der von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ausgestaltungsmöglichkeiten der familiären Lebensgemeinschaft lässt es nicht zu, schematische oder allzu enge Mindestvoraussetzungen für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu formulieren (BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 - 1 B 25.12 -, BayVBl 2014, 56 Rn. 3). Das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft ist daher weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Feststellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft (vgl. BGH, Urteile vom 14. Juni 1978 - IV ZR 164/77 -, NJW 1978, 1810 und vom 27.04.2016 - XII ZB 485/14 -, BGHZ 210, 124 Rn. 13). Der vorübergehende oder auch dauerhafte Verzicht auf die häusliche Gemeinschaft wie etwa bei Ehen von zwei an weit entfernten Orten beschäftigten Ehegatten, - wie hier - bei der Inhaftierung eines Ehegatten oder bei der dauerhaften stationären Unterbringung eines schwerst erkrankten oder pflegebedürftigen Ehegatten muss also kein Indiz für das Nichtvorliegen der erforderlichen familiären Lebensgemeinschaft sein (vgl. Jaeger/Hamm, in Johannsen/Henrich, Familienrecht, 6. Aufl. 2015, § 1565 BGB Rn. 14). Je mehr die Ehegatten bei der Ausgestaltung ihrer Ehe auf einen gemeinsamen, regelmäßigen Lebensmittelpunkt verzichten (müssen), desto wichtiger ist für die Feststellung einer bestehenden ehelichen Lebensgemeinschaft das Vorhandensein anderer Indizien für die gewollte gemeinsame Lebensgestaltung. Im Zentrum steht die Frage nach dem nachweisbar betätigten Willen, mit der Partnerin bzw. dem Partner als wesentlicher Bezugsperson ein gemeinsames Leben zu führen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 - 1 B 25.12 -, BayVBl 2014, 56 Rn. 4). [...]

Anträge im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind nach § 88 VwGO sachdienlich auszulegen und gegebenenfalls umzudeuten, um das sich aus dem Antrag zu erkennende Rechtsschutzziel angemessen abzubilden. Dies gilt im ausländerrechtlichen Verfahren um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis umso mehr, weil hier bereits die Abgrenzung der Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 123 VwGO nur rudimentär im Gesetz abgebildet ist und es sich um eine der wenigen Ausnahmen handelt, bei der trotz der in der Hauptsache statthaften Verpflichtungsklage entgegen § 80 Abs. 1 VwGO dennoch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO einschlägig sein kann. Hier gebietet die verfassungsrechtlich garantierte Rechtsbehelfsklarheit, die erfordert, dem Rechtssuchenden den Weg zur Überprüfung und Abänderung von behördlichen aber auch gerichtlichen Entscheidungen klar vorzuzeichnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -, BVerfGE 107, 395 (414)) zur Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzes eine umfassende und großzügige Handhabung von § 88 VwGO. Dies gilt unabhängig davon, ob der Antragsteller anwaltlich vertreten ist oder nicht. Denn die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über einstweiligen Rechtsschutz gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen und die im Einzelfall gebotene Prüfungsintensität auch unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes zu gewährleisten (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.06.2018 - 11 S 816/18 -, juris Rn. 4). [...]

Dabei ist die gesetzgeberische Wertung zu berücksichtigen, dass außerhalb des Anwendungsbereichs der § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG eine Aufenthaltsmöglichkeit für die Dauer des Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtlich nicht gewährleistet ist und der Ausländer darauf verwiesen ist, die Ansprüche auf Erteilung eines Titels vom Ausland zu verfolgen und durchzusetzen. Gleichzeitig ist dann aber in den Fällen, in denen das Gesetz eine Ausnahme von der Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum vorsieht (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), dem Ausländer insoweit eine im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sicherungsfähige Rechtsposition eingeräumt. Grundsätzlich gilt hier, dass vorläufiger Rechtsschutz nur dann gewährt werden kann, wenn keine Zweifel am Anspruch auf die Titelerteilung bestehen und keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen können (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.09.2012 - 11 S 1608/12 -, InfAuslR 2013, 30). Weitergehend kann ein Anordnungsanspruch aber auch in Betracht kommen, wenn und solange verbleibende, letzte Zweifel am Bestehen eines Titelerteilungsanspruchs auf einer nicht hinreichenden Sachaufklärung durch die zuständige Ausländerbehörde beruhen und bzw. oder die Tragfähigkeit möglicher Ermessensgesichtspunkte (hier bei der Anwendung von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) aufgrund einer unzureichenden Sachaufklärung durch die Ausländerbehörde im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht zu beurteilen ist. [...]