VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 25.10.2018 - 2 A 521/16 - asyl.net: M26722
https://www.asyl.net/rsdb/M26722
Leitsatz:

Keine inländische Fluchtalternative in Pakistan aufgrund psychischer Erkrankung:

Ein Asylsuchender aus Pakistan, der von den Taliban wegen Verweigerung der Zusammenarbeit verfolgt wurde, hat bei Vorliegen einer schweren psychischen Erkrankung keine inländische Fluchtalternative, da es ohne enge familiäre Unterstützung nicht möglich ist, sich eine tragfähige Existenzgrundlage zu verschaffen.

(Leitsatz des Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, subsidiärer Schutz, psychische Erkrankung, interne Fluchtalternative, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, ernsthafter Schaden, Verfolgung durch Dritte, Rückkehr, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1, AsylG § 3d, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, so dass sein erster Hilfsantrag Erfolg hat. [...]

Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG) durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i,V.m. § 3c Nr. 3 AsylG) und damit ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG. Der Kläger hat eine solche Behandlung vor seiner Ausreise bereits erlitten. [...]

Die Vermutung, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr in seinen Heimatort wiederum zum Ziel von Extremisten wird, die eine Kooperation erzwingen wollen, und dass er dann weiteren ernsthaften Schaden erleiden würde, ist nicht widerlegt. Offenbar waren Polizeikräfte bei den vom Kläger geschilderten Ereignissen nicht willens bzw. in der Lage, ihn vor dem Angriff zu schützen (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG), und es ist anzunehmen, dass dies auch künftig so sein würde. Zwar bekennt sich Pakistan in seiner Verfassung und auf der Ebene einfacher Gesetze grundsätzlich zur staatlichen Schutzpflicht. Gleichwohl fällt es Pakistan insgesamt angesichts schwach ausgebildeter rechtsstaatlicher Strukturen und der geringen Verankerung des Rechtsstaatsgedankens in der Gesellschaft schwer, rechtsstaatlichen Entscheidungen und damit auch der Schutzpflicht Geltung zu verschaffen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 21.08.2018, Seite 19). Es ist daher anzunehmen, dass der Kläger bei neuerlichen Übergriffen durch die Taliban wiederum schutzlos wäre.

Dem Kläger steht in Pakistan auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, der nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG im Rahmen der Prüfung subsidiären Schutzes entsprechend gilt, wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Zwar geht die Kammer in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. Urteil vom 26.05.2016, 2 A 364/14) davon aus, dass Rückkehrer in anderen Teilen Pakistans, insbesondere in den größeren Städten, eine interne Schutzmöglichkeit i.S.v. § 3e AsylG finden können. In den Städten Pakistans - vor allem in den Großstädten Rawalpindi, Lahore, Karachi, Peshawar oder Multan - leben potenziell Verfolgte aufgrund der dortigen Anonymität sicherer als auf dem Land. Selbst Personen, die wegen Mordes von der Polizei gesucht werden, könnten in einer Stadt, die weit genug von ihrem Heimatort entfernt liegt, unbehelligt leben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21 .08.2018, S. 19). Insbesondere für erwachsene Männer ist es regelmäßig auch möglich, ein ausreichendes Einkommen zu finden (vgl. Wagner, Auskunft vom 09.11.2011 an das VG Karlsruhe; UNHCR vom 14.05.2012, VG Augsburg, Urteil vom 30.03.2015 - Au 3 K 14.30437 -, juris Rn. 51-53 m.w.N.).

Das Gericht ist im konkreten Einzelfall des Klägers jedoch davon überzeugt, dass es diesem aufgrund seiner schweren psychischen Erkrankung nicht gelingen wird, sich außerhalb seiner Heimatregion und damit ohne enge familiäre Unterstützung eine tragfähige Existenzgrundlage zu verschaffen. [...]

Nach der Bescheinigung des Fachklinikums vom ... 2018, die die bereits zuvor erhobene und bescheinigte Diagnose erhärtet und deren Inhalt das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt, leidet der Kläger unter einer stark ausgeprägten depressiven und posttraumatischen Symptomatik; die weitere Bescheinigung vom ... 2018 spricht ausdrücklich von einer aktuellen psychischen Instabilität. Die Diagnose steht in Einklang mit dem Bild, das das Gericht in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat. Dieser machte einen stark gedrückten, psychisch schwer kranken Eindruck und war bei seiner Befragung emotional sehr angespannt. Nur unter Tränen war er in der Lage, von dem Vorfall in Pakistan zu berichten, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Auslöser seines derzeitigen psychischen Zustands war. Angesichts der offensichtlich schlechten Verfassung des Klägers und der ihm bescheinigten Rückzugstendenzen ist der Einzelrichter davon überzeugt, dass es dem Kläger im Fall seiner Rückführung nach Pakistan dort nicht gelingen würde, sein Leben in einer der Großstädte eigenverantwortlich zu organisieren und sich insbesondere eine tragfähige Existenzgrundlage zu schaffen. Es ist deshalb anzunehmen, dass er unabhängig von der Frage einer möglichen Retraumatisierung aufgrund der seelischen Erkrankung nach seiner Rückkehr in sein Heimatland alsbald in eine gesundheits- oder lebensgefährdende Situation geraten würde. Anhaltspunkte dafür, dass er außerhalb seiner Heimatregion von irgendeiner Seite Unterstützung zu erwarten hätte, um sich in Pakistan wieder in das Leben einzugliedern, hat das Gericht nicht. [...]