EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 07.11.2018 - C-380/17 K und B gg. Niederlande - asyl.net: M26724
https://www.asyl.net/rsdb/M26724
Leitsatz:

Ablehnung des begünstigten Familiennachzugs zu Flüchtlingen bei verpasster Antragsfrist möglich:

1. Die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG (FamZRL) ist nicht auf Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten anwendbar, da sie diese in Art. 3 Abs. 2 Bst. c ausdrücklich ausnimmt.

2. Da aber durch niederländisches Gesetz die Vorschriften, die für Flüchtlinge in der FamZRL gelten, auch für subsidiär Schutzberechtigte für unmittelbar und unbedingt anwendbar erklärt wurden und ihnen dadurch eine bessere als die in der FamZRL vorgesehene Behandlung garantieren, ist der EuGH für die Entscheidung über das Vorabersuchen zuständig.

3. Eine nationale Regelung, wonach ein Antrag auf Familiennachzug nach den günstigeren Bestimmungen für Flüchtlinge (Art. 9 bis 12 FamZRL) abgelehnt werden kann, weil er mehr als drei Monate nach Schutzzuerkennung gestellt wurde, ist vereinbar mit Art. 12 Abs. 1 FamZRL, der eine Abweichung von den allgemeinen Voraussetzungen für den Nachzug zu anderen Drittstaatsangehörigen vorsieht. Allerdings muss die Möglichkeit bestehen, im Rahmen einer anderen Regelung einen neuen Antrag zu stellen. Darüber hinaus muss vorgesehen werden, dass bei unverschuldeter Verspätung keine solche Ablehnung erfolgt, dass Betroffene über die Möglichkeit einer erneuten Antragstellung informiert werden und dass die Flüchtlinge begünstigenden Regelungen in Art. 10, 11 und 12 Abs. 2 FamZRL weiterhin gelten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, Familiennachzug, Familienzusammenführungsrichtlinie, Frist, Fristversäumnis, Drei-Monats-Frist, Flüchtlingsanerkennung, Anwendbarkeit, Privilegierung,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 12 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 3 Abs. 2 Bst. c, AEUV Art. 267, RL 2003/86/EG Art. 7, RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 12 Abs. 1 UAbs. 3, RL 2003/86/EG Art. 10, RL 2003/86/EG Art. 11, RL 2003/86/EG Art. 12 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

26 Die Richtlinie 2003/86 findet nach ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. c insbesondere dann keine Anwendung, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde.

27 Zwar ergibt sich bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass sie subsidiäre Schutzformen auf internationaler oder nationaler Grundlage betrifft, ohne unmittelbar auf den vom Unionsrecht vorgesehenen subsidiären Schutzstatus Bezug zu nehmen.

28 Jedoch kann daraus nicht abgeleitet werden, dass die Richtlinie 2003/86 auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, in dem der Zusammenführende diesen Status hat.

29 Als Erstes ist nämlich darauf hinzuweisen, dass der vom Unionsrecht vorgesehene subsidiäre Schutzstatus durch die Richtlinie 2004/83 eingeführt wurde, die nach der Richtlinie 2003/86 erlassen wurde. Das Fehlen einer unmittelbaren Bezugnahme auf diesen Status in dieser Richtlinie kann unter diesen Umständen nicht als entscheidend angesehen werden.

30 Als Zweites geht aus dem von der Kommission am 10. Oktober 2000 vorgelegten geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (KOM[2000] 624 endg., ABl. 2001, C 62 E, S. 99) hervor, dass die Ausnahme in Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 gerade mit Blick auf die spätere Einführung eines den Mitgliedstaaten gemeinsamen subsidiären Schutzstatus aufgenommen wurde, anlässlich deren die Kommission die Einführung von Bestimmungen betreffend die Familienzusammenführung, die an Drittstaatsangehörige mit einem solchen Status angepasst sind, vorschlagen wollte, was eher darauf hindeutet, dass diese Ausnahme dazu gedacht war, diese Drittstaatsangehörigen vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen. [...]

32 Da sich die gemeinsamen Kriterien für die Gewährung subsidiären Schutzes auf diese Weise an den in den Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen, die durch sie harmonisiert und gegebenenfalls ersetzt werden sollen, orientieren, würde Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn er dahin auszulegen wäre, dass er Personen, denen der vom Unionsrecht vorgesehene subsidiäre Schutzstatus zukommt, nicht erfasst.

33 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass sie auf Drittstaatsangehörige, die wie die Kläger des Ausgangsverfahrens der Familie eines subsidiär Schutzberechtigten angehören, nicht anwendbar ist.

34 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser jedoch für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betreffen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zwar nicht unmittelbar in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, aber die genannten Vorschriften durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, Cicala, C-482/10, EU:C:2011:868, Rn. 17, vom 18. Oktober 2012, Nolan, C-583/10, EU:C:2012:638, Rn. 45, und vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C-268/15, EU:C:2016:874, Rn. 53). [...]

37 Im vorliegenden Fall hat sich der niederländische Gesetzgeber laut dem vorlegenden Gericht, das im Rahmen des Systems der gerichtlichen Zusammenarbeit nach Art. 267 AEUV für die Auslegung des nationalen Rechts ausschließlich zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 1997, Leur-Bloem, C-28/95, EU:C:1997:369, Rn. 33, und vom 14. Juni 2017, Online Games u.a., C-685/15, EU:C:2017:452, Rn. 45), dafür entschieden, subsidiär Schutzberechtigten eine bessere als die nach der Richtlinie 2003/86 vorgesehene Behandlung zu garantieren, indem auf sie die Vorschriften angewendet würden, die nach dieser Richtlinie für Flüchtlinge vorgesehen seien. Daraus schloss das vorlegende Gericht, dass es nach niederländischem Recht im Ausgangsverfahren Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 anzuwenden habe. [...]

41 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem das vorlegende Gericht über das Recht eines subsidiär Schutzberechtigten auf Familienzusammenführung zu entscheiden hat, der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV für die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 zuständig ist, wenn diese Vorschrift durch das nationale Recht für auf solche Fälle unmittelbar und unbedingt anwendbar erklärt worden ist. [...]

42 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung, der für einen Familienangehörigen eines Flüchtlings gemäß den für Flüchtlinge geltenden günstigeren Bestimmungen des Kapitels V dieser Richtlinie gestellt wurde, abgelehnt werden kann, weil er mehr als drei Monate, nachdem dem Zusammenführenden der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden war, gestellt wurde, die jedoch die Möglichkeit bietet, im Rahmen einer anderen Regelung einen neuen Antrag zu stellen. [...]

47 Es steht den Mitgliedstaaten somit – wenn sie dies für angebracht halten – frei, Anträge von Flüchtlingen auf Familienzusammenführung nicht nach der in Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen günstigeren Regelung, sondern nach der allgemeinen Regelung für Anträge auf Familienzusammenführung zu behandeln, wenn die Anträge nach Ablauf der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie genannten Frist gestellt werden.

48 Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 kann nicht dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten davon auszugehen hätten, dass die Überschreitung – ohne triftigen Grund – der Frist für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung nach der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen günstigeren Regelung nur ein Gesichtspunkt sei, der neben weiteren bei der Gesamtbeurteilung der Begründetheit dieses Antrags zu berücksichtigen sei und durch andere Erwägungen ausgeglichen werden könne. [...]

51 Art. 5 Abs. 5 und Art. 17 der Richtlinie 2003/86 können keine andere Beurteilung rechtfertigen. [...]

53 In diesem Zusammenhang wird der betreffende Mitgliedstaat in der Lage sein, das Erfordernis einer individualisierten Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung zu beachten, das sich aus Art. 17 der Richtlinie 2003/86 ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, K und A, C-153/14, EU:C:2015:453, Rn. 60) und insbesondere verlangt, dass die mit der Flüchtlingseigenschaft des Zusammenführenden verbundenen Besonderheiten berücksichtigt werden. So muss – laut dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie – der Lage von Flüchtlingen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie nicht damit rechnen können, in ihrem Herkunftsstaat ein normales Familienleben zu führen, sie womöglich während eines langen Zeitraums von ihrer Familie getrennt gewesen waren, bevor ihnen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, und die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für sie im Vergleich zu anderen Drittstaatsangehörigen eine größere Schwierigkeit darstellen kann.

54 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in Rn. 48 des vorliegenden Urteils dargestellte Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 nicht dem entgegensteht, dass vor Erlass einer endgültigen Entscheidung über die beantragte Familienzusammenführung alle in Art. 5 Abs. 5 und Art. 17 dieser Richtlinie genannten Gesichtspunkte berücksichtigt werden.

55 Wenngleich der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten dazu ermächtigt hat, in dem in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie genannten Fall die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie angeführten Voraussetzungen zu verlangen, hat er jedoch nicht bestimmt, wie ein Antrag in verfahrensrechtlicher Hinsicht zu behandeln ist, der verspätet nach der günstigeren Regelung im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie gestellt worden ist. [...]

59 Im vorliegenden Fall ist eine nationale Regelung, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung, der für einen Familienangehörigen eines Flüchtlings gemäß den günstigeren Bestimmungen des Kapitels V der Richtlinie 2003/86 gestellt wurde, abgelehnt werden kann, weil er mehr als drei Monate, nachdem dem Zusammenführenden der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden war, gestellt wurde, die jedoch die Möglichkeit bietet, im Rahmen einer anderen Regelung einen neuen Antrag zu stellen, als solche nicht geeignet, die Ausübung des durch die Richtlinie 2003/86 verliehenen Rechts auf Familienzusammenführung praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.

60 Die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung, der im Rahmen einer nationalen Regelung zur Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie gestellt wurde, bedeutet nämlich nicht, dass das Recht auf Familienzusammenführung nicht gewährleistet werden könnte, denn die Familienzusammenführung kann im Rahmen einer anderen Regelung nach Stellung eines entsprechenden Antrags gewährt werden.

61 Zwar können sich durch die Verspätung und den Verwaltungsaufwand, die mit der Stellung eines neuen Antrags verbunden sind, für die betroffene Person gewisse Unannehmlichkeiten ergeben, jedoch geht dies nicht so weit, dass grundsätzlich angenommen werden könnte, dass diese Person praktisch daran gehindert würde, ihr Recht auf Familienzusammenführung wirksam geltend zu machen.

62 Allerdings verhielte es sich anders, wenn die Ablehnung des ersten Antrags auf Familienzusammenführung in Fällen erfolgen könnte, in denen die verspätete Stellung dieses Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist.

63 Wenn ferner eine nationale Regelung die Flüchtlinge dazu zwingt, ihre Rechte alsbald nach der Erteilung des Flüchtlingsstatus geltend zu machen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem ihre Kenntnisse der Sprache und der Abläufe des Aufnahmemitgliedstaats vermutlich eher schwach ausgeprägt sind, sind die betroffenen Personen zudem zwingend in vollem Umfang über die Folgen der Entscheidung zur Ablehnung ihres ersten Antrags und die Maßnahmen, die sie zu ergreifen haben, um ihr Recht auf Familienzusammenführung wirksam geltend zu machen, zu informieren.

64 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten lediglich gestattet, von Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie abzuweichen, indem vom Flüchtling verlangt wird, dass er die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt.

65 Daher sind auf einen Flüchtling, der seinen Antrag auf Familienzusammenführung mehr als drei Monate, nachdem ihm der Flüchtlingsstatus erteilt worden war, gestellt hat, trotzdem die für Flüchtlinge geltenden günstigeren Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung anzuwenden, die in den Art. 10 und 11 bzw. in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie genannt sind.

66 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 einer nationalen Regelung, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung, der für einen Familienangehörigen eines Flüchtlings gemäß den für Flüchtlinge geltenden günstigeren Bestimmungen des Kapitels V dieser Richtlinie gestellt wurde, abgelehnt werden kann, weil er mehr als drei Monate, nachdem dem Zusammenführenden der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden war, gestellt wurde, die jedoch die Möglichkeit bietet, im Rahmen einer anderen Regelung einen neuen Antrag zu stellen, nicht entgegensteht, sofern diese Regelung

- vorsieht, dass ein solcher Ablehnungsgrund in Fällen unzulässig ist, in denen die verspätete Stellung des ersten Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist,

- vorsieht, dass die betroffenen Personen in vollem Umfang über die Folgen der Entscheidung zur Ablehnung ihres ersten Antrags und die Maßnahmen, die sie zu ergreifen haben, um ihr Recht auf Familienzusammenführung wirksam geltend zu machen, informiert werden, und

- garantiert, dass als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden weiterhin die für Flüchtlinge geltenden günstigeren Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung zugutekommen, die in den Art. 10 und 11 bzw. in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie genannt sind. [...]