VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 24.09.2018 - 36 L 358.18 A - asyl.net: M26742
https://www.asyl.net/rsdb/M26742
Leitsatz:

Keine OU-Ablehnung wegen Ausschlussgrund schwere Straftat in der Türkei:

Keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet wegen des Ausschlussgrundes einer schweren nichtpolitischen Straftat, da bei Strafverfahren mit politischem Bezug in der Türkei kaum von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Türkei, Kurden, schwere nichtpolitische Straftat, Ausschlussgrund, Rechtsstaatlichkeit, Politmalus, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 30 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1,
Auszüge:

[...]

20 Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren maßgeblichen summarischen Prüfung nach Aktenlage bestehen Zweifel daran, dass der Kläger sich in dem hier zu entscheidenden Einzelfall einer schweren nichtpolitischen Straftat strafbar gemacht hat. Das Bundesamt geht davon aus, es sei grundsätzlich nicht seine Aufgabe, ausländische Urteile auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Das Asylverfahren stelle keine  "Superrevision" für ausländische Strafurteile oder etwaige Verfahrensfehler dar (Bl. 329 des Verwaltungsvorgangs). Dies mag im Einzelfall zutreffen. Eine rechtliche Bindungswirkung entfaltet ein ausländisches Urteil für das deutsche Asylverfahren indes nicht (Kluth, in: BeckOK Ausländerrecht, 19. Auflage 2018, § 3 Rn. 21). Vielmehr ist die Prüfung und Feststellung, ob der Betreffende eine von den Ausschlussgründen erfasste Handlung begangen hat, dem jeweiligen Aufnahmestaat als souveräne Entscheidung überlassen (BVerwG, Urteil vom 24. November 2009 – BVerwG 10 C 24.08 – BVerwGE 135, 252 Rn. 28). Liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass das ausländische Strafurteil unter Missachtung  grundsätzlicher rechtsstaatlicher Standards zustande gekommen ist, ist das Bundesamt verpflichtet, den      Sachverhalt selbst aufzuklären und seine Entscheidung über den Ausschluss des Flüchtlingsschutzes auf dieser Grundlage zu treffen.

21 Im Hinblick auf das Urteil des türkischen Gerichts vom 1. Oktober 2013 liegen nach summarischer Prüfung derartige konkrete Anhaltspunkte vor. Diese ergeben sich aus der allgemeinen Erkenntnislage zu Strafverfahren mit politischem Bezug in der Türkei. In dem aktuellen Lagebericht führt das Auswärtige Amt aus, seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 und der Verhängung des Notstands am 20. Juli 2016 könne in politischen Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und "FETÖ" nur noch sehr  eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Juli 2018, S. 17 f.). Das US Department of State geht davon aus, dass die türkischen Strafverfolgungsbehörden die Rechtsbegriffe des "Terrorismus" und der "Gefährdung der nationalen Sicherheit" weit auslegen und in einigen Fällen auf der Grundlage fragwürdiger Beweismittel Strafverfahren gegen Journalisten, Oppositionspolitiker, Aktivisten und andere Regierungsgegner eingeleitet haben. Nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen hätten viele Inhaftierte keine substantielle Verbindung zu terroristischen Organisationen und würden mit dem Zweck festgenommen, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die politische Opposition zu schwächen (Turkey 2017 Human Rights Report, 2018, S. 18). Auch zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der Verurteilung des Antragstellers am  1. Oktober 2013 bestanden erhebliche Zweifel an der Wahrung rechtsstaatlicher Standards durch die türkischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte. In dem Lagebericht aus dem Jahr 2012 hält das Auswärtige Amt fest, die extensive Auslegung des unklar formulierten § 220 tStGB (kriminelle Vereinigung) durch das Oberste Zivilgericht führe zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Sie müssen mit einer Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: August 2012, S. 10). Amnesty International berichtet davon, dass im Laufe des Berichtsjahrs 2012 auf der Grundlage der vage und sehr breit gefassten Antiterrorgesetze Tausende von Strafverfahren eingeleitet wurden. In den meisten Fällen wurde den Beschuldigten die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zur Last gelegt, ein Vorwurf, der Raum bot für zusätzliche missbräuchliche Anwendungen. Unter den strafrechtlich Verfolgten waren viele politisch engagierte Bürger wie Studenten, Journalisten, Schriftsteller, Rechtsanwälte und Wissenschaftler. Zu den weiteren Verfahrensmängeln zählte eine übermäßig lange Untersuchungshaft, während der die Rechtsanwälte weder die Beweismittel gegen ihre Mandanten einsehen noch die Rechtmäßigkeit ihrer Haft wirksam anfechten konnten, da die Akten als geheim deklariert wurden. So hatte der Student Cihan Kõrmõzõgül Ende 2011 bereits 22 Monate in Untersuchungshaft zugebracht. Man warf ihm Sachbeschädigung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vor. Die Anklage gründete sich darauf, dass er ein traditionelles Tuch getragen hatte, das auch bei Personen gesehen worden war, die an einer Demonstration teilgenommen haben sollen, bei der "Molotow-Cocktails" geworfen wurden (Amnesty International, Report 2012, Türkei, Abschnitt: Unfaire Gerichtsverfahren).

22 Dementsprechend ist auch in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei Strafverfahren mit politischem Bezug in der Türkei im Einzelfall wegen des zur Anwendung kommenden "Politmalus" eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung anzunehmen ist. Ein solcher Politmalus liegt vor, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet. Das ist insbesondere dann zu vermuten, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher – nicht politischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche. Solange sich ein solcher "Politmalus" nicht von vornherein ausschließen lässt, ist der diesbezügliche  Sachverhalt in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären (BVerfG, Beschlüsse 10. Juli 1989 – 2 BvR 502 u.a. – BVerfGE 80, 315, 338, 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 – NVwZ  2009, 1035, 1036 und 4. Dezember 2012 – 2 BvR 2954/09 – NVwZ 2013, 500, 500). In der Türkei kann nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden, dass nur mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer der PKK vorgegangen wird (OVG Münster, Urteil vom 2. Juli 2013 – 8 A 2632/06.A – juris Rn. 62 ff.; OVG Lüneburg, Urteil vom 31. Mai 2016 – 11 LB 53/15 – InfAuslR 2016, 450, 452; VG Freiburg [Breisgau], Urteil vom 8. Juli 2016 – A 6 K 2036/13 – juris UA S. 11; VG Berlin, Urteil vom 24. November 2016 – VG 36 K 50.15 A – juris Rn. 23; VG Dresden, Urteil vom 18. April 2017 – 3 K 511/16.A – juris Rn. 22). [...]