VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 13.09.2018 - 9 L 380.18 A - asyl.net: M26746
https://www.asyl.net/rsdb/M26746
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutzbedürfnis mangels Abschiebungen nach Afghanistan aus Berlin:

Ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung aus einem Zweitantragsbescheid hinsichtlich Afghanistan bleibt wegen fehlendem Rechtsschutzinteresse ohne Erfolg, weil nach der Berliner Weisungslage keine Abschiebungen nach Afghanistan erfolgen und in diesen Fällen eine Duldung ausgestellt wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Berlin, Abschiebungsandrohung, Ablehnungsbescheid, Suspensiveffekt, Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, Zweitantrag, Duldung, Abschiebung, Straftat, Täuschung über Identität, Erlasslage, Rechtsschutzinteresse,
Normen: AufenthG § 58 Abs. 1, VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, AsylG § 71a Abs. 4, AsylG 36 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

6 Das Bestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses ist Sachentscheidungsvoraussetzung eines jeden Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu prüfen ist; mit dieser Prüfung soll aus Gründen der Prozessökonomie eine überflüssige Inanspruchnahme der Gerichte verhindert werden. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage fehlt danach, wenn und soweit der Antrag nicht geeignet ist, die Rechtsstellung des Rechtsschutzbegehrenden zu verbessern (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 4. Juli 2011 – OVG 2 S 34.11 – juris Rn. 3, vom 23. März 2012 – OVG 11 S 35.11/OVG 11 M 20.11 – BA S. 3 f. m.w.N. und vom 18. September 2014 – OVG 11 S 49.14 – juris Rn. 3; vgl. auch Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 80 Rn. 136). Dies ist der Fall, wenn auch ohne eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO eine Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides – hier die Abschiebung der Antragstellerin – ausscheidet und sich auch sonst aus der begehrten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage keine bessere Rechtsstellung für die Antragstellerin ergibt. So liegt es hier.

7 1. Eine Abschiebung der Antragstellerin nach Afghanistan scheidet aus. Nach der Berliner Weisungslage und Praxis für ausreisepflichtige Personen aus Afghanistan wird die nach § 58 Abs. 1 AufenthG gesetzlich angeordnete Abschiebung ("ist abzuschieben") nicht durchgesetzt. Die im Land Berlin geltende Weisung VAB E Afghanistan 1 (Stand: 26. April 2018) lautet auszugsweise wie folgt (Unterstreichungen nur hier):

8 "Zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan kommen derzeit angesichts der gegenwärtigen Lage vor Ort nur unter den nachstehend geschilderten Voraussetzungen in Betracht. Möglich sind Abschiebungen von Straftätern, wobei Strafen von weniger als 50 Tagessätzen bzw. 90 Tagessätzen (additiv) nach aufenthaltsrechtlichen Vorschriften (Bagatellgrenze) außer Betracht bleiben, eingestuften Gefährdern oder Personen, von denen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, und Personen, die sich hartnäckig der Identitätsfeststellung verweigern. [...] Vorlagen [an die Senatsverwaltung für Inneres und Sport] für "hartnäckige" Identitätsverweigerer sollen nur erfolgen, wenn der vollziehbar ausreisepflichtige afghanische Staatsangehörige mehr als zwei Identitäten benutzt oder mehrfach getäuscht hat und eine Aufklärung nicht selbst veranlasst bzw. unterstützt hat. Aliasidentitäten, die lediglich geringe Abweichungen in der Schreibweise des Namens, ansonsten aber identische Daten aufweisen, bleiben unberücksichtigt. […] Afghanische Staatsangehörige, für die die o.g. Abschiebungskriterien nicht vorliegen, erhalten einzelfallbezogen eine Duldung nach § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG aus humanitären Gründen, es sei denn, andere vorrangige Duldungsgründe greifen."

9 Danach droht der Antragstellerin unabhängig von der von ihr begehrten gerichtlichen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO keine Abschiebung nach Afghanistan. Sie unterfällt weder nach Aktenlage noch nach ihrem Vortrag einer der oben genannten Gruppen, ihre Aliasidentität betrifft lediglich eine geringe Abweichung in der Schreibweise ihres Namens. Dass die Ausländerbehörde Berlin entgegen der Weisung zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan durchführt, ist nicht ersichtlich. Dementsprechend heißt es in dem Schreiben des Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration vom 19. Mai 2017 an die Mitarbeiter von Beratungsstellen, Vereinen und Projekten, dass Abschiebungen nach Afghanistan in den letzten Jahren aus Berlin nicht erfolgt seien und jede vorgesehene Abschiebung außerdem unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die politische Hausleitung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport stehe, was in den letzten Jahren zu keiner einzigen Rückführung geführt habe (abrufbar unter www.fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/Sonstiges/Berliner_Weisungslage_zu_ausreisepflichtigen_Personen_aus_Afghanistan.pdf; zuletzt abgerufen am 13. September 2018). Dies entspricht auch der aktuellen Praxis, denn nach Angaben des Pressesprechers des Senators für Inneres und Sport vom Juli 2018 haben sich die SPD-Innenminister und -senatoren darauf verständigt, auch weiterhin nur bestimmte Einzelpersonen – namentlich Gewalttäter, Vergewaltiger oder Gefährder – nach Afghanistan abzuschieben (abrufbar unter berlin-hilft.com/2018/07/10/berlinerabschiebung-nach-afghanistan-bleibt-einzelfall/; zuletzt abgerufen am 13. September 2018).

10 2. Für die Antragstellerin ergäbe sich aus der begehrten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage auch sonst keine bessere Rechtsstellung.

11 Wird dem Anordnungsantrag stattgegeben, würde die Antragstellerin lediglich in den Besitz einer Duldung gelangen.

12 Nach § 71a AsylG ist, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt (Zweitantrag), ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen (Absatz 1). Für das Verfahren zur Feststellung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, gelten die §§ 12 bis 25, 33, 44 bis 54 AsylG entsprechend (Absatz 2 Satz 1). Der Aufenthalt des Ausländers gilt als geduldet (Absatz 3 Satz 1). Die §§ 56 bis 67 AsylG gelten entsprechend (Absatz 3 Satz 2). Wird ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt, sind die §§ 34 bis 36, 42 und 43 AsylG entsprechend anzuwenden (Absatz 4). Danach erlangt ein Zweitantragsteller keine Aufenthaltsgestattung, sondern nur eine Duldung kraft gesetzlicher Fiktion. Lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Zweitantrag ab, erlischt die Duldungsfiktion in dem Zeitpunkt, in dem die (zugleich erlassene) Abschiebungsandrohung vollziehbar wird. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage würde also (nur) bewirken, dass die mit der Zweitantragstellung verbundene Duldungsfiktion wieder auflebt.

13 Wird der Anordnungsantrag abgelehnt, würde die Antragstellerin aber ebenfalls eine Duldung erhalten, nämlich aufgrund der oben erwähnten Weisung VAB E Afghanistan 1 (in Verbindung mit einer Selbstbindung der Verwaltung) nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG.

14 Dass die von der Antragstellerin begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ihr ansonsten eine bessere Rechtsstellung bringen würde, trägt sie nicht vor und ist auch nicht ersichtlich. [...]