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VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 05.11.2018 - 1 A 271/17 HAL - asyl.net: M26747
https://www.asyl.net/rsdb/M26747
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für alleinstehenden Afghanen wegen drohender Gewalt durch Familienangehörige:

1. Vor einer glaubhaft dargelegten Gefahr der Gewalt durch Familienangehörige gibt es in Afghanistan  keinen ausreichenden Schutz durch den afghanischen Staat oder durch nationale oder internationale Organisationen. 

2. Der Verweis auf internen Schutz ist wegen der problematischen Existenzsicherung ohne familiäre Unterstützung für eine psychisch belastete Person nicht zumutbar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, alleinstehender junger Mann, nichtstaatliche Verfolgung, subsidiärer Schutz, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, interner Schutz, Existenzgrundlage, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, EMRK Art. 3, RL 2011/95/EU Art. 7 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger droht in Gestalt der Söhne seines Onkels eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, vor denen erwiesenermaßen weder der afghanische Staat noch eine andere nationale oder internationale Organisation ausreichend Schutz vor Verfolgung bietet (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nf. 3 und § 3d AsylG). Die Islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. Von einem solchen Schutz könnte man ausgehen, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Kläger Zugang zu diesem Schutz hätte (vgl. Art. 7 Abs. 2 QRL). Nach der Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben.

Da der Kläger im Ergebnis glaubhaft eine Vorverfolgung geschildert hat, greift zu seinen Gunsten gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (vgl. Qualifikationsrichtlinie) die tatsächliche Vermutung ein, dass sich die erniedrigende und unmenschliche Behandlung, der der Kläger durch die gegnerische Familie ausgesetzt war, im Fall seiner Rückkehr in seinen Heimatort wiederholen wird oder darüber hinaus die gegnerische Familie an den Kläger gerichteten Todesdrohungen realisiert. Der Kläger hat - wie bereits bei der Anhörung vorgetragen - von einem Anruf seiner Cousins berichtet, welcher nach der Ausreise aus Afghanistan stattfand. Er hat angegeben, mit dem Tode bedroht worden zu sein, weil er sich mit den Urkunden außer Landes begeben habe. Da die Cousins noch immer nicht in Besitz der Eigentumsurkunden der Ländereien sind, besteht die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger - im Falle einer Rückkehr - weiter verfolgt werden würde. Insbesondere der Umstand, dass seine gesamte Familie ausgereist ist, spricht für die weiter anhaltende Bedrohungslage in seiner Heimatregion.

Dem Kläger ist auch nicht zumutbar, internen Schutz in einem anderen Landesteil Afghanistans zu erlangen, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3e AsylG. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

Die Frage, wann von einem Schutzsuchenden "vernünftigerweise erwartet werden kann", dass er sich in einem verfolgungsfreien Landesteil niederlässt, hat das Bundesverwaltungsgericht dahingehend präzisiert, dass der Maßstab der Zumutbarkeit über das Fehlen einer für die Feststellung von Abschiebungshindernissen beachtlichen existenziellen Notlage hinausgehe (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - juris, Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. August 2018 - A 11 S 1753/18 - juris, Rn. 22; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06. Juni 2016 - 13 A 1882/15.A - juris, Rn. 6).

Nach der Erkenntnislage des UNHCR in den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 sind alleinstehende arbeitsfähige junge Männer oder verheiratete Paare ohne Kinder - wenn nicht individuell erschwerende Umstände hinzukommen - auch ohne besondere Qualifikation und familiären Rückhalt trotz der schlechten humanitären Bedingungen und Sicherheitslage in der Lage, sich in urbanen und semi-urbanen Umgebungen Afghanistans ein Existenzminimum zu erwirtschaften (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 10 und 99). Ein verfolgungssicherer Ort bietet erwerbsfähigen Personen eine wirtschaftliche Lebensgrundlage etwa dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen können (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.03.2012 - A 11 S 3070/11 - juris). Die bisher nur in Englisch verfügbare aktualisierte Richtlinie des UNHCR vom 30. August 2018 zeichnet allerdings ein noch schlechteres Bild, indem z.B. auf den Seiten 112 ff. ausgeführt wird, dass Kabul allgemein nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe (vgl. IUNHCR, UNHCR eligibility guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan - HCR/EG/AFG/18/02, vom 30. August 2018, S. 112 ff.).

Die Voraussetzungen für eine inländische Fluchtalternative sind aufgrund der individuellen Situation des Klägers nicht gegeben. Denn es kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger im Fall einer Rückkehr an Leib und Leben geschädigt wird.

Der Kläger gehört zwar grundsätzlich zur Gruppe der jungen Männer ohne weitere Unterhaltsverpflichtungen, allerdings ist er sichtlich von seiner Vorverfolgung in Afghanistan und den Umständen seiner Flucht noch erkennbar psychisch gezeichnet. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck des Gerichts hat der Kläger die zurückliegenden Ereignisse trotz seines zwischenzeitlich mehrjährigen Aufenthaltes in Deutschland (noch) nicht verarbeitet, was sich in den bereits oben beschriebenen emotionalen Reaktionen des Klägers während der mündlichen Verhandlung widerspiegelt. Der Kläger kann zudem in Afghanistan auf kein soziales, Netzwerk zurückgreifen, da seine Tante und die übrigen Familienmitglieder sich in der Bundesrepublik aufhalten. Diesen Umstand hat der Kläger durch Angabe der Namen seiner Familienmitglieder und Aktenzeichen der ergangenen Bescheide der Beklagten glaubhaft gemacht. Die Eltern des Klägers sind bereits verstorben und über weitere unterstützungswillige Familienmitglieder verfügt der Kläger in anderen Landesteilen von Afghanistan nicht. Zudem kann der Kläger keine Schulbildung vorweisen. Er ist Analphabet und hat nie selbstständig seinen Lebensunterhalt verdient. Auf konkrete Nachfrage hat er in der mündlichen Verhandlung dargestellt, dass er der Familie seiner Tante bei der Bestellung der Felder geholfen habe. Ausgehend von dieser Tätigkeit kann man im Falle des Klägers nicht von einer Berufserfahrung sprechen, die ihm helfen würde, in einem anderen Teil von Afghanistan wirtschaftlich eine Existenz aufzubauen. Der Kläger hat auch auf das Gericht einen eher zurückhaltenden Eindruck gemacht und man hat ihm seine mangelnde Lebenserfahrung angemerkt. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass dem Kläger die Eigenständigkeit und das Durchsetzungsvermögen fehlen werden, sich durch Gelegenheitsarbeiten die finanzielle Grundlage für ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu verschaffen. Angesichts des in Afghanistan vorherrschenden Verdrängungswettbewerbs ist damit zu rechnen, dass sich der Kläger auf dem Arbeitsmarkt in den größeren Städten gegen ältere, kräftigere und erfahrenere Männer nicht durchsetzen kann. [...]