VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 18.10.2018 - M 10 K 17.30550 - asyl.net: M26752
https://www.asyl.net/rsdb/M26752
Leitsatz:

Keine Rückkehrgefährdung für homosexuellen Mann aus Pakistan:

1. Homosexuelle Handlungen sind in Pakistan zwar strafbar. Die statistische Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung ist aber gering.

2. Homosexuelle Beziehungen werden von der Gesellschaft abgelehnt. Homosexuelle Handlungen werden jedoch in einem gewissen Rahmen toleriert, weil voreheliche Beziehungen zwischen Männern und Frauen nicht möglich sind.

3. Bedrohungen durch die Familie und die Dorfgemeinschaft kann ein Mann sich durch den Umzug in einen anderen Landesteil entziehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, homosexuell, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Straftatbestand, soziale Gruppe, Rückkehrgefährdung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

10 1. Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen sind in Pakistan gesetzlich verboten. Obwohl Homosexualität nicht explizit im Strafgesetz erwähnt wird, werden Homosexuelle durch die Anwendung des Art. 377 Strafgesetz strafrechtlich verfolgt. Der Art. 377 legt fest, dass freiwilliger und unnatürlicher Geschlechtsverkehr mit einem Mann, einer Frau oder einem Tier mit Haft von mindestens zwei Jahren bis lebenslänglich sowie mit einer Buße bestraft wird. Häufig werden zwei weitere Gesetzesartikel angewendet, um Homosexuelle strafrechtlich zu verfolgen. Es handelt sich dabei um Art. 294, der obszöne Tänze und Lieder unter Strafe stellt sowie Art. 295, ein Verbot der Blasphemie. Gemäß dem 1990 eingeführten Scharia-Gesetz werden homosexuelle Handlungen mit Peitschenhieben, Haft oder mit dem Tod bestraft. Es gibt keine Gesetze, welche auf Grund der sexuellen Orientierung einer Person vor Diskriminierung schützen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Pakistan: Situation von Homosexuellen, Auskunft der SFH-Länderanalyse, 11.6.2015, Seite 1 m.w.N.).

11 2. Zwar kann bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft von dem Asylbewerber nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 u.a. - juris). Jedoch ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass der Kläger seine Homosexualität in Pakistan auch ausleben kann, ohne Opfer von asylrelevanter staatlicher Verfolgung zu werden. Allein die Tatsache, dass der Kläger homosexuell ist, begründet noch nicht die Annahme, ihm drohe abweichend von der allgemeinen Lage in Pakistan politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG, § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG.

12 2.1 Der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, stellt als solcher noch keine Verfolgungshandlung in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 Buchstabe c der EU-Qualifikations-RL bzw. des § 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 AsylG dar. Es kommt für eine Grundrechtsverletzung und damit für die Verfolgungshandlung maßgeblich darauf an, ob eine solche Strafe auch tatsächlich verhängt wird (EuGH, a.a.O.).

13 Zur Anwendungspraxis führt die Schweizerische Flüchtlingshilfe aus ( a.a.O. S. 2 f), obwohl Art. 377 Strafgesetzbuch über unnatürlichen Geschlechtsverkehr selten gegen Homosexuelle angewendet werde und Fälle nur selten vor Gericht kämen, benützten Polizisten und weitere Personen die Art. 377 und 294, um LGBTs zu bedrohen, sie zu bestechen und um sexuelle Gefälligkeiten zu erpressen. Deshalb stünden LGBTs unter psychischem Druck und seien der Gefahr von Übergriffen konstant ausgesetzt. Seit der letzten Auskunft im Juli 2012 seien wenig neue Verhaftungen oder Verurteilungen nach Art. 377 Strafgesetzbuch bekannt geworden. Die beiden in der früheren Auskunft erwähnten Personen, die in Multan im Jahr 2011 auf Grund von Art. 377 angeklagt und zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden seien, hätten sich über ein Jahr lang in Haft befunden. Die Familien hätten sich außergerichtlich mit dem Kläger geeinigt und eine Summe Geld bezahlt, worauf die Klage fallengelassen und die beiden Männer frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden seien. Weitere Männer, die im selben Fall ebenfalls angeklagt worden waren, seien nie vor Gericht gekommen, da ihre Familien die Angelegenheit außergerichtlich geregelt hätten. Anfang 2015 sei ein 17-jähriger Junge wegen Verstoßes gegen Art. 377 festgenommen worden, da er einen 15-Jährigen vergewaltigt haben solle. Auf Druck der Polizei habe die Familie des Opfers die Anzeige fallen gelassen und eine Kompensationszahlung erhalten. Der 17-jährige Angeklagte sei am 4. Mai 2015 wieder aus der Haft entlassen worden.

14 Laut der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) im Mai 2014 sei nicht klar, ob die im Scharia-Gesetz vorgesehene Todesstrafe für homosexuelle Handlungen in Pakistan umgesetzt werde. Nach dem Präsidenten der Neengar Society würden Scharia-Gerichte bei familiären Angelegenheiten wie z.B. bei Scheidungen angerufen. Der Kläger oder der/die Beschuldigte könne entscheiden, ob er/sie sich an ein ziviles Gericht oder an ein Scharia-Gericht wenden wolle. Danach würden von Scharia-Gerichten kaum Fälle bzgl. homosexueller Handlungen behandelt. Im Mai 2005 seien nach BBC in der Khyber-Region zwei Männer wegen sexuellen Handlungen öffentlich ausgepeitscht worden.

15 Auch nach der Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 29. Juni 2012 (Gz.: 508-9-516.80 / 47240) sind dem Auswärtigen Amt keine Strafverfahren gegen männliche oder weibliche Homosexuelle, die Beziehungen auf einvernehmlicher Basis unterhalten, bekannt. Allerdings werden Homosexuelle, die sich als solche zu erkennen geben, in privaten wie öffentlichen Leben faktisch diskriminiert.

16 Angesichts der geringfügigen Zahl von Fällen strafrechtlicher Verfolgung bzw. Verurteilungen von homosexuellen Männern ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass gerade der Kläger strafrechtlich verfolgt und verurteilt wird, als sehr gering einzuschätzen, auch wenn man berücksichtigt, dass von dem Asylbewerber eine Geheimhaltung seiner Homosexualität im Herkunftsland oder Zurückhaltung nicht erwartet werden darf. Es sind keine Gründe vorgetragen oder ersichtlich, dass der Kläger abweichend von der allgemeinen Situation für Homosexuelle besonderen Gefahren von Strafverfolgung ausgesetzt ist.

17 2.2 Auch die Gefahr einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure nach § 3c Nr. 3 AsylG ist gering.

18 Zwar wird in der pakistanischen Gesellschaft eine Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen des gleichen Geschlechts grundsätzlich nicht akzeptiert. Sex zwischen Männern wird jedoch toleriert. Laut dem Islam ist Sex vor der Ehe verboten und die Gesellschaft erlaubt es den jungen Männern nicht, eine Freundin zu haben. Viele junge Männer machen deshalb ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Freund oder einem Cousin. Laut einem Forscher sehen die Familien gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen als Teil des Erwachsenwerdens und würden diese ignorieren. Viele Männer, die gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr haben, identifizieren sich nicht als Homosexuelle und werden auch nicht als solche von ihren Familien wahrgenommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 4 f.).

19 Gewaltakte gegen LGBTs kommen wohl am häufigsten innerhalb der Familien vor. In manchen Fällen kommt es zu Ermordungen durch Familienangehörige. Psychologische, emotionale und sexuelle Gewalt ist laut einer Studie, für die lesbische und bisexuelle Frauen befragt wurden, die am häufigsten ausgeübte Gewalt innerhalb der Familie. Meistens sind es Eltern, Geschwister und im gleichen Haushalt lebende Verwandte, welche Gewalt gegen LGBTs ausüben. Es kommt zu emotionaler, psychischer und finanzieller Vernachlässigung und zu sexueller Gewalt. Junge Männer und Buben, die ihre sexuelle Orientierung nicht aufgeben, sind der Gefahr ausgesetzt, von ihren Familien verstoßen zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 6). [...]