VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Beschluss vom 26.10.2018 - 1 B 2047/18 - asyl.net: M26767
https://www.asyl.net/rsdb/M26767
Leitsatz:

Überstellung einer Familie mit minderjährigen Kindern nach Italien ohne individuelle Zusicherung rechtmäßig:

1. In Italien liegen für Dublin-Rückkehrer keine systemischen Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen vor, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen.

2. Die allgemeine Zusicherung Italiens, besonders schutzbedürftige Familien mit minderjährigen Kindern menschenrechtskonform unterzubringen, ist ausreichend. Denn aufgrund sinkender Asylantragszahlen ist davon auszugehen, dass in den SPRAR-Zentren tatsächlich Kapazitäten vorhanden sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, systemische Mängel, Zusicherung, Kinder, minderjährig, Aufnahmebedingungen, Aufnahmeeinrichtung, Überstellung, Abschiebungsandrohung, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, besonders schutzbedürftig, Kind, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Dublin III-Verordnung, Abschiebung,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a,
Auszüge:

[...]

5 Die Antragsgegnerin hat den Asylantrag der Antragsteller zu Recht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG als unzulässig abgelehnt. Sie ist auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zutreffend davon ausgegangen, dass Italien für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) zuständig ist. [...]

6 Anhaltspunkte für eine vorrangige Zuständigkeit der Antragsgegnerin liegen nicht vor. Insbesondere ergibt sich eine solche nicht aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 der Dublin III-VO. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig, wenn es sich aufgrund systemischer Schwachstellen des Asylsystems in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta mit sich bringen, als unmöglich erweist, die Antragsteller dorthin zu überstellen.

7 Davon ist vorliegend nicht auszugehen.

8 Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93 –, juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden. [...]

9 Ausgehend von diesen Maßstäben und unter Berücksichtigung des aktuellen Erkenntnismaterials ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien unter derartigen systemischen Mängeln leiden (vgl. dazu im Einzelnen: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2018 – 10 LB 96/17 –, Rn. 40 ff., juris). [...]

11 Weiterhin steht fest, dass die Abschiebung der Antragsteller nach Italien durchgeführt werden kann. Die Abschiebung der Antragsteller nach Italien ist rechtlich zulässig und tatsächlich möglich (vgl. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 03. Dezember 2010 – 4 Bs 223/10 –, Rn. 10, juris).

12 Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote im Hinblick auf Italien stehen der Abschiebung der Antragsteller nach Italien nicht entgegen. [...]

14 Etwas anderes folgt nicht daraus, dass die Antragsteller (Eheleute mit zwei minderjährigen Kindern im Alter von 5 und 8 Jahren) zum Kreis der besonders schutzwürdigen Personen zu zählen sind, bei denen nach der Rechtsprechung des EGMR in der Sache Tarakhel ./. Schweiz (Entscheidung vom 4. November 2014 – 29217/12 –) vor der Abschiebung grundsätzlich zunächst eine individuelle Garantie der italienischen Behörden einzuholen ist, dass bei Familien mit minderjährigen Kindern eine dem Alter der Kinder entsprechende Unterbringung sichergestellt ist und die Familie zusammenbleiben darf.

15 Eine ausreichende Erklärung der italienischen Behörden für die gebotene Berücksichtigung der besonderen Situation von Familien mit minderjährigen Kindern im Hinblick den altersentsprechenden Bedarf an Unterkunft und Versorgung liegt in Form der allgemeinen Erklärung der italienischen Behörden vom 27. März 2015 sowie den sog. "circular letters" vor (vgl. zum Inhalt dieser Erklärungen: EGMR, Entscheidung vom 28. Juni  2016 – 15636/16 –, N.A. u.a. ./. Dänemark, Rn. 8, 11 f., 19; dies ebenfalls als ausreichend erachtend: Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. März 2018 – 3 L 114/18 –, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 9 AE 997/18 –, juris; VG Kassel, Beschluss vom 05. Juni 2018 – 1 K 7114/17.KS.A –, juris; a.A.: VG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Juli 2018 – 22 L 5076/17.A –, juris, wobei auch die Frage der Aktualität der "circular letters" von Bedeutung gewesen sein dürfte [dazu sogleich]). [...]

16 Der EGMR hat die vorgenannte Vorgehensweise akzeptiert und eine Verletzung von Art. 3 EMRK aufgrund drohender Obdachlosigkeit bei der Überstellung von Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien ohne individuelle Zusicherung der italienischen Behörden wiederholt verneint (vgl. etwa EGMR, Entscheidung vom 28. Juni 2016 – 15636/16 –, N.A. u.a. ./. Dänemark; EGMR, Entscheidung vom 4. Oktober 2016 – 30474/14 –, Jihana ALI u.a. ./. Schweiz und Italien). [...]

19 Auch das beschließende Gericht vermag – in Anknüpfung an die vorstehend zitierten Ausführungen des EGMR – nicht zu erkennen, dass die in den SPRAR-Projekten vorgehaltenen Plätze für Familien mit minderjährigen Kindern, hinsichtlich derer die italienischen Behörden überdies zugesichert haben, diese im Bedarfsfall zu erhöhen (vgl. oben), im Falle einer Überstellung nach Italien nicht zur Verfügung stehen werden. Dabei ist darauf zu verweisen, dass sich ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Zahl der  gestellten Asylanträge und der Zahl von Plätzen in den Einrichtungen des SPRAR-Netzwerks, in denen Familien mit minderjährigen Kindern untergebracht werden, anders als zur Zeit der Entscheidung des EGMR in der Sache Tarakhel ./. Schweiz (Entscheidung vom 4. November 2014 – 29217/12 –) gegenwärtig nicht feststellen lässt. [...]

35 Der Überstellung der Antragsteller nach Italien steht weiterhin nicht entgegen, dass ihnen, sofern sie dort Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz erhalten, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohen könnte. Unabhängig davon, ob für anerkannte Schutzberechtigte nach der derzeitigen Berichtslage eine solche Gefahr anzunehmen ist, ist diese Frage im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich. Denn es ist derzeit noch offen, ob die Antragsteller in Italien Flüchtlings- oder subsidiären Schutz erhalten werden. Gleiches gilt für die Frage, ob die Antragsteller künftig einmal in Italien auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sein werden (vgl. dazu Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2018 – 10 LB 96/17 –, Rn. 87 f., juris). [...]