VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.11.2018 - 11 S 2018/18 - asyl.net: M26790
https://www.asyl.net/rsdb/M26790
Leitsatz:

1. Der Anspruch eines Ausländers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, den er während des behördlichen Verfahrens erworben hat, kann - zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens und effektiven Rechtsschutzes - dem Erfordernis des fortbestehenden "Besitzes" einer humanitären Aufenthaltserlaubnis im Sinne dieser Vorschrift bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gleichstehen.

2. Der Widerruf eines Aufenthaltstitels nach § 52 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 5 Buchst. c) AufenthG setzt voraus, dass die nach dem AsylG ergangene Entscheidung des Bundesamts unanfechtbar ist oder die aufschiebende Wirkung der dagegen erhobenen Klage entfällt (Fortführung von VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.01.2007 - 13 S 1576/06 -, juris, Rn. 4 ff., und Urteil vom 13.03.2001 - 11 S 2374/99 -, juris, Rn. 26 ff.).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Widerruf, Rechtskraft, Niederlassungserlaubnis, Abschiebungsverbot, Bindungswirkung,
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 52 Abs. 1 S. 2, AsylG § 42,
Auszüge:

[...]

Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann im Übrigen einem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Dabei ist die Frage, wann - tatbestandlich - von dem Besitz einer "Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt" auszugehen ist, von der Frage zu unterscheiden, welche Zeiten (ggf. auch Fiktionszeiten) für die Erfüllung des Mindestzeitraums nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG anrechnungsfähig sind. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seinem Urteil vom 30. März 2010 (- 1 C 6.09 -, juris, Rn. 18 ff.) nur über die letztgenannte Frage zu entscheiden. Auch in seinem Beschluss vom 6. März 2014 (- 1 B 17.13 -, juris, Rn 6 f.) hat es unter Bezug auf die Funktion einer Fiktionsbescheinigung nur zu der Frage Stellung genommen, ob Fiktionszeiten auch dann anrechenbar sein können, wenn kein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis besteht bzw. es nicht zu deren Verlängerung kommt. Es hat zu Sinn und Zweck des § 81 Abs. 4 AufenthG insoweit ausgeführt, dass die Fortbestandsfiktion nur vorläufigen Charakter haben und sich auf die Beurteilung des materiellen Anspruchs auf Verlängerung oder Neuerteilung eines anderen Aufenthaltstitels nicht auswirken sollte, denn ein Antragsteller solle durch die verspätete Entscheidung über seinen Antrag "nicht schlechter, aber auch nicht besser gestellt werden, als wenn die Behörde alsbald entschieden hätte" (BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 6.09 -, juris, Rn. 21).

Das Bundesverwaltungsgericht hat weiter ausgeführt (a.a.O., Rn. 24 ff.), Bedenken der Vorinstanz hinsichtlich der Gesichtspunkte des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und des fairen Verfahrens - wenn die Behörde es in der Hand hätte, dem Betroffenen durch "planvolles Nichtentscheiden" den durch § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG garantierten Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung über die Einräumung eines Daueraufenthaltsrechts zu nehmen -, könne auf andere Weise als durch Anrechnung von Fiktionszeiten Rechnung getragen werden: "Für den […] Fall eines fortbestehenden Verlängerungsanspruchs, dem die Behörde zu Unrecht nicht nachkommt, kann dieser im Klageweg verfolgt werden und damit nach der Rechtsprechung des Senats letztlich auch ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über eine Niederlassungserlaubnis durchgesetzt werden. Denn in diesem Fall wären sowohl die Zeiten eines inzident festzustellenden Anspruchs auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis anzurechnen als auch das Erfordernis des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung durch die Feststellung eines solchen Rechtsanspruchs als erfüllt anzusehen. Entsprechendes gilt, wenn der Ausländer während des Verfahrens nicht nur über einen Anspruch auf Verlängerung seiner humanitären Aufenthaltserlaubnis verfügt, sondern auch einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erwirbt. Denn in diesem Fall ist im gerichtlichen Verfahren auch inzident zu prüfen, ob der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer beantragten Niederlassungserlaubnis während des Verfahrens erworben hat, der dann dem Erfordernis des fortbestehenden Besitzes einer humanitären Aufenthaltserlaubnis bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gleichstehen würde" (BVerwG, a.a.O., Rn. 26).

Erwirbt der Ausländer mithin - was im gerichtlichen Verfahren inzident zu prüfen ist - während des Verfahrens einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Niederlassungserlaubnis, steht dies nach den zitierten Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts dem Erfordernis des fortbestehenden Besitzes einer humanitären Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bis zum - im Übrigen maßgeblichen - Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gleich. Daran gemessen, ist die Antragsgegnerin - und mit ihr, wie die Antragstellerin zu Recht rügt, auch das Verwaltungsgericht - bei der Ablehnung des Anspruchs auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis von unzutreffenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ausgegangen. [...]

Bei der - nach dem Erfolg des Beschwerdevorbringens - vorzunehmenden vollständigen Prüfung des Rechtsschutzbegehrens erweisen sich die Erfolgsaussichten des Widerspruchs der Antragstellerin als offen; die sich diesbezüglich in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht stellenden Fragen sind im Hauptsacheverfahren zu klären (nachfolgend a)). Die demnach erforderliche Interessenabwägung führt zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (b)).

a) Die Versagung der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG durch die Antragsgegnerin erweist sich nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand bei summarischer Prüfung als ermessensfehlerhaft, denn die Antragsgegnerin hat den Tatbestand des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - wohl zu Unrecht - nicht als erfüllt angesehen und deshalb insoweit keinerlei Ermessen ausgeübt. Jedenfalls ein Anspruch auf  ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer solchen Niederlassungserlaubnis dürfte der Antragstellerin aber voraussichtlich zukommen.

Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Niederlassungserlaubnis ist, wenn der Antragsteller Verpflichtungsklage erhoben hat, der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. für § 26 Abs. 4 AufenthG nur BVerwG, Beschluss vom 06.03.2014 - 1 B 17.13 -, juris, Rn. 6, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 6.09 -, juris, Rn. 15, und Urteil vom 10.11.2009 - 1 C 24.08 -, juris, Rn. 13).

aa) Die Antragstellerin ist zwar nicht (mehr) im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes. Sie dürfte jedoch mit Blick auf dieses Tatbestandsmerkmal so zu stellen sein, als sei sie weiterhin im Besitz einer solchen. Denn die inzident vorzunehmende Prüfung ergibt voraussichtlich, dass die Antragstellerin jedenfalls Anfang November 2016 - mit Erfüllung der Voraussetzung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zum 31. Oktober 2016 - einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung der Niederlassungserlaubnis erworben hatte, was nach den oben zitierten Ausführungen aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dem Erfordernis des fortbestehenden Besitzes einer humanitären Aufenthaltserlaubnis bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gleichstehen würde: [...]

(2) Es spricht viel dafür, dass sich dadurch, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das zugunsten des - damals noch minderjährigen - Sohnes der Antragstellerin festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG durch - der Antragsgegnerin am 28. November 2016 zugegangenen - Bescheid vom 11. Oktober 2016 widerrief, an diesem Anspruch der Antragstellerin nichts geändert hat. Die dagegen erhobene Klage entfaltete nämlich aufschiebende Wirkung (§ 75 Abs. 1 i.V.m. § 73c Abs. 2 AsylG), und die sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufs war nicht angeordnet.

Eine - hypothetisch - alsbald nach Erfüllung sämtlicher Voraussetzungen erteilte Niederlassungserlaubnis hätte deshalb (allein) aufgrund dieses Widerrufs, anders als die Antragsgegnerin meint, jedenfalls zunächst nicht widerrufen werden können. Denn der - von § 52 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 5 Buchstabe c) AufenthG grundsätzlich ermöglichte - Widerruf des Aufenthaltstitels setzt voraus, dass die nach dem AsylG ergangene Entscheidung des Bundesamts unanfechtbar ist oder die aufschiebende Wirkung der dagegen erhobenen Klage entfällt (vgl. - zum insoweit vergleichbaren § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG - bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.01.2007 - 13 S 1576/06 -, juris, Rn. 4 ff. (m.w.N. aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts); mit ausführlicher Begründung - noch zu § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG - auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.03.2001 - 11 S 2374/99 -, juris, Rn. 26 ff.; ferner Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 52 AufenthG Rn. 11; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 102. Aktualisierung (Mai 2017), § 52 AufenthG Rn. 24). Ob etwas Anderes gilt, wenn die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG nicht als-bald erteilt wurde, sondern nur ein Anspruch auf deren Erteilung bzw. ermessensfehlerfreie Entscheidung insoweit bestand, ist bislang ungeklärt und bedarf der Entscheidung im Hauptsacheverfahren. Jedenfalls greift das Argument, die Bindungswirkung der im Asylverfahren ergangenen Entscheidung gegenüber der Ausländerbehörde nach § 42 Satz 1 AsylG trete in der Regel ohne Rücksicht auf deren Bestandskraft ein, weil diese Entscheidung nach § 75 AsylG regelmäßig ohnehin sofort vollziehbar sei (Bergmann, in: ders./Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 42 AsylG Rn. 3), in diesem Zusammenhang zu kurz. Denn die Klage hat im Falle des Widerrufs nach § 73c AsylG gerade aufschiebende Wirkung (zwischen dem Entfall der positiven Bindungswirkung nach § 42 Satz 1 AsylG mit Wirksamwerden des Widerrufs einerseits und dem Eintritt der negativen Bindungswirkung mit dessen Unanfechtbarkeit andererseits differenzierend Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand 77. Lieferung (Oktober 2014), § 52 AufenthG Rn. 59).

(3) Daran, dass die Antragstellerin voraussichtlich so zu stellen ist, als sei sie im Sinne des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG "im Besitz" einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG, dürfte sich auch dadurch nichts ändern, dass der Sohn der Antragstellerin, von dem sie das humanitäre Aufenthaltsrecht ableitete, inzwischen volljährig geworden ist. Denn der Sinn und Zweck dieser Gleichstellung besteht nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - unter den Gesichtspunkten effektiven Rechtsschutzes und eines fairen Verfahrens - darin, einen Antragsteller infolge der längeren Dauer des Verfahrens nicht schlechter zu stellen, als wenn die Ausländerbehörde alsbald entschieden hätte. Hier hat die Antragsgegnerin indes - ungeachtet der bereits seit Februar 2017 anhängigen Untätigkeitsklage - mit einer Entscheidung noch über mehr als ein Jahr bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Sohnes zugewartet, um ihre Ablehnung sodann im Wesentlichen auf diesen Umstand zu stützen. Durch diese Verfahrensgestaltung hat sie die Antragstellerin mit Blick auf die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG schlechter gestellt, als wenn sie alsbald nach Erfüllung aller Tatbestandsmerkmale entschieden hätte. [...]